Der NHS auf dem Weg zumklimaneutralen
Gesundheitssystem
Interview mit Nick Watts

Der National Health Service (NHS) – das britische Gesundheitssystem – ist das einzige Gesundheitssystem der Welt, das routinemäßig über seine Treibhausgasemissionen berichtet. Seit 2010 hat der NHS seine Emissionen um 30% gesenkt. Im Oktober 2020 verpflichtete sich der NHS zu einer Strategie der Emissionsreduzierung mit einem Netto-Null-Ziel bis 2040 für Einrichtungen des Gesundheitswesens und entlang der Lieferkette, sowie bis 2045 für zusätzliche Emissionen aus Patienten- und Besucheran- und -abreisen und zuhause genutzte medizinische Services. (NHS, Delivering a ‘Net Zero’ National Health Service Report, 2020).

Das Interview führte Kerstin Blum.

Dr. Nick Watts MBBS, MA, BMedSci, FFPH

verantwortet das Ziel des NHS eines hochklassigen und dabei klimaneutralen Gesundheitssystems für Großbritannien. Watts ist Mediziner mit Zulassung in Australien und Großbritannien, Adjunct Professor an der Universität von Notre Dame, sowie Fellow der Fakultät für Public Health am Royal College of Physicians. Vor seiner Arbeit für den NHS war er international als Geschäftsführer des Lancet Countdown und der Lancet Commission on Climate Change and Health tätig, einer Kooperation von UN-Organisationen und wissenschaftlichen Zentren weltweit. Um Gesundheitsberufe für die Zusammenhänge von Klimawandel und Gesundheit zu mobilisieren hat er die Global Climate and Health Alliance und die britische Health Alliance on Climate Change ins Leben gerufen.

Welche Motivation steckt hinter dem weltweit beispiellosen Engagement des NHS für ein emissionsfreies Gesundheitswesen?

Es gibt drei Gründe, warum sich der NHS um dieses Thema kümmert und, warum sich jedes Gesundheitssystem um Nachhaltigkeit kümmern sollte:

Erstens: Der NHS existiert, um für alle eine qualitativ hochwertige Versorgung zu gewährleisten, jetzt und für zukünftige Generationen. Das ist unser Grundprinzip. Aber das können wir nur, wenn wir auch auf den Klimawandel reagieren. Da ist sich die Wissenschaft einig – seit Jahrzehnten.

Zweitens: Der NHS ist ein großer Teil des Problems, wenn es um den britischen Ausstoß von Treibhausgasen geht mit 5,4% Anteil an den nationalen Emissionen, 36% Anteil an den Emissionen des öffentlichen Sektors, 40% Anteil am Stromverbrauch des öffentlichen Sektors. Der NHS ist groß: 1,4 Millionen Mitarbeiter, 120 Milliarden Pfund Leistungsausgaben. Doch dadurch sind wir auch ein wichtiger Teil der Lösung. Immer, wenn wir Maßnahmen umgesetzt haben, um Emissionen zu reduzieren, hat es das Leben unserer Patienten verbessert, Kosten gespart und damit Mittel für eine bessere Gesundheitsversorgung freigemacht.

Drittens: Es begeistert unsere Mitarbeiter. Neun von zehn Beschäftigten des NHS wollen, dass wir mehr gegen den Klimawandel tun. In einer Umfrage haben wir unsere Mitarbeitenden kürzlich gefragt, wie viele von ihnen in den letzten Wochen im Rahmen ihrer Tätigkeit etwas im Bereich Nachhaltigkeit umgesetzt haben. Diese Zahl hat sich allein in den letzten 18 Monaten um etwa 250.000 Mitarbeitende erhöht … 250.000 weitere Schritte.

Ein Beispiel: Kürzlich haben zwei Krankenhäuser um den gleichen Anästhesisten für eine Führungsposition geworben. Er entschied sich nicht für das größere, neuere oder besser zahlende Krankenhaus, sondern für das Haus, das als erstes weltweit komplett auf Desfluran, ein hoch klimaschädliches Inhalationsanästhetikum, verzichtet. Er wollte für eine Organisation arbeiten, die seinen Werten gerecht wird. Das ist ein Trend, den wir in der Mitarbeiterschaft sehen. Und wir sehen die Auswirkungen auf die Geschäftsführungen, die Nachhaltigkeit zunehmend als wichtigen Faktor bei der Mitarbeitergewinnung erkennen.

Werfen wir nochmal einen Blick zurück in das Jahr 2008 und den Climate Change Act. Waren dort bereits Ziele und Maßnahmen für den NHS vorgegeben? Ist der Vorsprung, den der NHS heute hat, auf politischen Druck auf ein staatliches Gesundheitswesen zurückzuführen?

Meiner Meinung nach haben die Entwicklungen im NHS nichts damit zu tun, dass es ein staatliches System ist. Der Climate Change Act erwähnte die Gesundheitsversorgung gar nicht und es gab keinen politischen Druck. Der NHS hat selbst Verantwortung übernommen. Im Health and Care Act vom Juni 2022 haben Regierung und NHS zusammengearbeitet. Bei der Reduzierung von Fahrzeugen mit Verbrennermotoren zum Beispiel wollte die Regierung den NHS außenvorlassen. Aber wir wollten dieses Ziel angehen, denn Luftverschmutzung ist ein wichtiges Thema für uns. Die Entwicklung hin zu mehr Nachhaltigkeit geht auf leidenschaftliche und engagierte Mitarbeitende zurück, die begannen sich zu organisieren, die Gesundheitschancen erkannt haben, die der Climate Change Act bot, und diese genutzt haben.

Der NHS hat seine Emissionen seit 2010 bereits um 30% reduziert. Welche Maßnahmen hatten ihrer Meinung nach die größte Wirkung? Und von welchen erwarten Sie die größte Wirkung in der Zukunft?

Ein wichtiges Thema sind die 20% unserer Emissionen im Bereich Arzneimittel, die aus flüchtigen Gasen, z.B. Inhalatoren, Narkosemitteln und Lachgas resultieren. Allein Inhalatoren machen 3% des gesamten Fußabdrucks des NHS aus. Das Gute ist: Man kann in 98% der Fälle die klimaschädlichsten Mittel ganz einfach durch klimafreundlichere ersetzen, klinisch gleichwertig und auch noch billiger.

Ein anderes großes Feld ist unser Fuhrpark. Wir haben unsere Verkehrsemissionen erfolgreich reduziert durch einen elektrischen Fuhrpark. Diese E-Auto-Flotte ist für den NHS im Unterhalt günstiger, also machen wir das zum Standard.

Zum Teil entwickeln wir auch innovative Versorgungsmodelle. Wir führen eine neue Flotte von vollelektrischen Notarzteinsatzfahrzeugen für die psychische Versorgung ein. Das ist ein großartiges Beispiel für eine bessere kommunale psychiatrische Versorgung, die auch noch kohlenstoffarm ist. Außerdem haben wir „Virtual Wards“ – virtuelle Stationen – eingerichtet mit denen Patient:innen statt eines stationären Klinikaufenthalts sicher und bequem zu Hause versorgt werden können. Außerdem haben wir ein neues Programm „NHS@home“, das Patient:innen die Tools, das Wissen und die Technik gibt, um ihre Gesundheit zu Hause selbst zu überwachen und zu managen. All das ist gut für unsere Patient:innen und für das Klima.

Ich würde also sagen, unsere Erfolge beruhen einerseits auf der konsequenten Umsetzung von „Low Hanging Fruits“, auf neuen Versorgungsmodellen und auf der Umstellung unseres Transportwesens.

Das hört sich alles schöner an als wahr zu sein. Es muss auch Widerstände gegeben haben in den vergangenen Jahren. Können Sie diese kurz beschreiben?

Ich denke, die Hindernisse liegen vor allem in der Trägheit, weniger in tiefer Ablehnung. Menschen in Gesundheitsberufen sehen meist durchaus, dass Klimaschutz richtig ist. Aber Veränderung ist immer schwierig und es gibt nicht den einen großen Hebel. Also binden wir die Beschäftigten ein, wir nehmen das Thema in unsere Verträge auf, in die Zulassung, wir schaffen finanzielle Anreize und integrieren es in unsere Planungen und Gesetze. Wir stellen sicher, dass es auf lokaler Ebene das notwendige Personal gibt, bieten Fortbildungen, Wettbewerbe, und schalten Medienkampagnen.

Trotzdem stößt man immer wieder auf Hindernisse. Die muss man annehmen und Lösungen finden, denn Chancen sind ebenfalls überall. Ich glaube, dass wir uns im Gesundheitsbereich und beim Klimawandel manchmal selbst lähmen, indem wir versuchen, alles auf einmal anzugehen und nur das Größte zu tun. Was man aber wirklich tun muss, ist erst einmal kleine, erreichbare Ziele in Angriff zu nehmen, dann Kapazitäten zu erweitern und so eine Dynamik aufzubauen. Und mit dieser im Rücken geht man dann ein größeres Problem an.

Wir lähmen uns im Gesundheitsbereich manchmal selbst, weil wir versuchen, alles auf einmal anzugehen.

Sie haben die Net-Zero-Strategie im Oktober 2020 – inmitten der Pandemie – auf den Weg gebracht. Haben Sie jemals erwogen, den Start zu verschieben? Hatte Covid-19 einen Einfluss auf die Ziele oder den Prozess der Net-Zero-Kampagne?

Wir haben unseren Schwerpunkt verlagert, aber das Ziel ist das gleiche geblieben. Wir haben viel mehr auf Anreize gesetzt, daran gearbeitet wie wir die Herzen und die Köpfe erreichen, wie wir inspirieren und begeistern können. Das war sehr wichtig in dieser Phase.

Am 20. Januar 2020 hat der NHS beschlossen, ein Net-Zero-System zu werden. Fünf Tage später rief die WHO den internationalen Gesundheitsnotstand wegen COVID-19 aus. Natürlich haben wir über eine Verschiebung nachgedacht. Aber den Verantwortlichen ist bewusst, dass die Klimakrise eine Gesundheitskrise ist. Der NHS ist dafür verantwortlich, alle Gesundheitskrisen anzugehen, und wenn sich jemand gleichzeitig mit dem Klimawandel und COVID-19 befassen kann, dann ist es der NHS. Und so ist die Arbeit in den letzten zwei Jahren keineswegs ins Stocken geraten. Das macht mich im Nachhinein immer noch sehr stolz.

Um die Ziele des NHS zur Emissionsreduzierung auch in der Lieferkette zu erreichen, sind Sie darauf angewiesen, dass Lieferanten und externe Dienstleister Ihnen auf dem Weg der Transformation folgen. Wie ist dort der Status quo?

Sechzig Prozent der NHS-Emissionen fallen in der Lieferkette an. Aber das darf nicht bedeuten, dass die 1,4 Millionen Angehörigen der Gesundheitsberufe im NHS keinen Einfluss hätten. Wenn Sie auf die Emissionen eines Medikaments einwirken wollen, haben Sie sehr viele Möglichkeiten. Sie können sich dafür entscheiden, ein anderes Medikament zu verschreiben. Sie können Ihre Verschreibung optimieren. Sie können den Lebensstil präventiv beeinflussen. Unsere Köche und Köchinnen können sich dafür entscheiden, lokal einzukaufen. Unsere Physiotherapeuten entscheiden, was unsere Patient:innen nach einer Hüft- oder Knieoperation mit nach Hause nehmen. Wir haben also ein enormes Maß an Einfluss. Deshalb haben wir damit begonnen, 1,4 Millionen Mitarbeitende zu aktivieren und ihnen das nötige Wissen zum Thema Kohlenstoff vermittelt.
Dann können Sie sich für Veränderungen in der Lieferkette und der Beschaffungspolitik einsetzen. Für den NHS sind das 80.000 Lieferanten, die 120 Milliarden Pfund erwirtschaften. Denen gegenüber haben wir sehr deutlich gemacht, dass der NHS ab dem 1. April 2027 nicht mehr bei Lieferanten einkaufen wird, die die Net-Zero-Zielsetzungen nicht erfüllen. Nur für kleine bis mittlere Unternehmen gilt eine verlängerte Frist von zwei Jahre.

Die Idee ist, ein langfristiges ambitioniertes Ziel zu setzen und ihn dann gemeinsam mit der Industrie auszugestalten. Also führen wir Innovationswettbewerbe durch und investieren Geld in kohlenstoffarme Innovationen, denn wir wissen, dass es hier ein Innovationsproblem gibt, das wir lösen müssen.

Und wie haben die Unternehmen bisher reagiert?

Als wir unsere Lieferanten über diese neue Strategie informier haben – Pharmaunternehmen, Med-Tech-IT, Logistik, Baugewerbe, Wäschereidienste; einige der größten der Welt – dachten sie zuerst, das könnten wir nicht ernst meinen. Aber ein halbes Jahr später haben die 15 größten Unternehmen ihre Klimaziele neu definiert und sich deutlich ambitioniertere Ziele gesetzt, die sich an die des NHS anpassen. Das tun sie, weil die Klimakrise eine Gesundheitskrise ist. Und weil sie wissen, dass die Forderung des NHS vielleicht die erste dieser Art ist. Das deutsche, das kanadische und andere Gesundheitssysteme werden die gleichen Anforderungen stellen. Die Unternehmen haben erkannt, dass dies die Richtung ist, in die sich die Medizin entwickelt, und wollen ihren Beitrag zur Innovation leisten.

Wie bewusst oder beteiligt sind die Patient:innen an dieser Entwicklung?

Unsere Patient:innen nehmen die Luftverschmutzung in ihren Gemeinden durchaus wahr, oder den vielen Müll, der durch das Gesundheitssystem produziert wird. Sie schätzen den besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung, den sie durch bessere kommunale Dienste und eine digitalere Gesundheitsversorgung erhalten können. Sie sagen vielleicht nicht direkt, dass sie unsere Maßnahmen gegen den Klimawandel gut finden. Aber sie sagen, „diese Sache da, die ihr gemacht habt in der Versorgung, die finde ich gut“. Die konkreten Maßnahmen, die sowohl die Versorgung verbessern als auch den Klimawandel bekämpfen, finden sie hervorragend.

Es gibt noch ein gutes Beispiel: Wir haben Anreize geschaffen, die klima , bzw. umweltschädlichsten Arzneimittel weniger zu verordnen. Und wir stellten fest, dass diese Umstellung Pflegefachkräften und Hausärzt:innen im ganzen Land einen gute Anlass bietet, mit ihren Patient:innen über deren Gesundheit zu sprechen. Während dieses Gesprächs diskutieren sie auch den größeren Zusammenhang, die Zusammenhänge von Umwelt, Gesundheit und Medizin. Bei einer Evaluierung haben 81% der Patient:innen gesagt, dass sie sehr gut fanden, dass diese Themen mit ihnen besprochen wurden. Es braucht eine hohe Sensibilität, um diese Themen richtig einzuordnen. Aber wenn es jemanden gibt, dem ich zutraue diese Gespräche zu führen, dann ist es ein/e Hausärzt:in, die in der Gemeinschaft Versorgung leistet, ihre Patient:innen kennt und dafür ausgebildet ist. Und 81 Prozent ist eine ziemlich gute Trefferquote.

Wenn Sie sich in anderen Ländern umsehen: Sehen Sie gute Beispiele, von denen der NHS noch lernen kann? Wer holt auf oder folgt Ihrem Beispiel?

In den Vereinigten Staaten hat das Gesundheitsministerium ein Team gebildet, das sich mit Gesundheitsgerechtigkeit und Klimawandel befasst. In Australien gibt es inzwischen in fünf der sieben Gesundheitsministerien der Bundesstaaten Abteilungen für nachhaltige Entwicklung. Einzelne Krankenhäuser in den Vereinigten Staaten, auf den Philippinen, in Südafrika, Neuseeland, Kanada und Europa haben begonnen, sich mit diesem Thema zu befassen. Spanien hat eine eigene Net-Zero-Gesundheitsstrategie. In Deutschland wird bei der Wiederaufbereitung von klinischen Medizinprodukten wirklich gute Arbeit geleistet. In Frankreich und Schweden hat man unsere Probleme mit Inhalatoren nicht, sondern hat es geschafft das komplett zu vermeiden. Australien ist beeindruckend, wenn es darum geht, Energieeffizienz, Belüftung und Infektionskontrolle miteinander zu verbinden. Überall auf der Welt sieht man diese Lichtblicke und Beispiele von Menschen, die versuchen etwas anders zu machen, die ausprobieren und beweisen, dass sie Recht hatten. Und wir prüfen, welche Ideen wir „klauen“ können.

Wenn wir darauf schauen, wo wir sein müssten: Nein, wir sind nicht annähernd weit genug. Aber wenn wir darauf schauen, wo wir gestern noch standen, dann sehen die Dinge verdammt beeindruckend und positiv aus.

Was raten Sie den deutschen Verantwortlichen, wie sie den Prozess hin zu einem nachhaltigen Gesundheitssystem mit Null Emissionen beschleunigen können? Wo sollen wir anfangen?

Ich kann ein paar Dinge anbieten, die ich im Laufe unserer Arbeit als nützlich erkannt habe.

Erstens: Menschen und Teams sind wichtig und Veränderung ist schwierig.

Zweitens: Die Menschen verbringen ihre Zeit oft damit, sich Gründe auszudenken, warum etwas nicht möglich ist. „Würde das nicht möglicherweise die Patientenversorgung beeinträchtigen?“ Oder „Vielleicht sollten wir diese Sache mit dem Klimawandel nicht machen, weil ich mir wirklich Sorgen um dieses andere Problem der biologischen Vielfalt oder der Nährstoffversorgung oder des Ozonabbaus mache“. Und in all diesen Fällen lautet meine Antwort in der Regel: Ja, man muss immer die Patient:innen im Blick haben und eine breitere „Planetary Health“-Perspektive einnehmen. Und wenn du das getan hast, musst du dich auf etwas fokussieren, das direkt vor dir liegt und erreichbar ist. Nicht etwas, das du im Jahr 2040 tun kannst, sondern etwas, das du morgen früh um 9.00 Uhr tun kannst. Wenn nicht, dann grübelst du dich um deinen Erfolg.

Wir müssen uns viel mehr mit den kalten, harten Fakten der Umsetzung befassen.

Wir müssen viel besser darin werden, nicht länger von der perfekten Welt im Jahr 20xy zu träumen, und solange wir das nicht erreichen können, tun wir gar nichts. Wir müssen uns viel mehr mit den kalten, harten Fakten der Umsetzung befassen und damit, was es tatsächlich bedeutet, sich die Hände schmutzig zu machen und die Versorgung zu verändern. Denn das ist der einzige Weg, um wirklich etwas zu erreichen.