Die Menschen in Gesundheitsberufen erreichen regelmäßig Höchstwerte unter den Berufsgruppen, denen die Bevölkerung das größte Vertrauen entgegenbringt. Gleichzeitig haben sie über den direkten Kontakt mit Menschen in allen Lebensphasen einen großen Einfluss auf deren gesundheitsbezogenes Verhalten und Vorbildfunktion. Wie die Pflege und die Ärzteschaft selbst auf diese besondere Rolle blicken und welche Ableitungen sie im Hinblick auf Nachhaltigkeit und Klimaschutz treffen, besprach Jürgen Graalmann mit der Präsidentin des Deutschen Pflegerates, Christine Vogler, und dem Präsidenten der Bundesärztekammer Dr. Klaus Reinhardt.
Nachhaltigkeit und Klimaschutz waren lange „Orchideenthemen“. Welche Rolle spielen die Themen aktuell in Ihren Berufsgruppen?
Christine Vogler: Bereits vor 30 Jahren – als ich in der Ausbildung war – diskutierten wir über Themen wie Müllvermeidung. Damals angeregt durch die Einführung von Einmalprodukten, die durch vermeintlich hygienische Vorteile legitimiert wurden. Doch insgesamt waren Nachhaltigkeit und Klimaschutz lange Jahre so gut wie kein Thema in der Pflege. Ressourcen schonen und Energie sparen ist in Kliniken, wo viele Menschen zusammenarbeiten und am Ende bei Verschwendung nicht das eigene Portemonnaie betroffen ist, immer noch schwer umsetzbar. Es fehlt an Anreizen, sich Gedanken über ressourcenschonendes Arbeiten zu machen. In der ambulanten Pflege sah das schon immer etwas anders aus. In der Häuslichkeit kann man nur auf das zurückgreifen, was vorhanden ist, und Material muss durch die Pflegebedürftigen und Pflegenden organisiert werden und liegt nicht automatisch im Regal. Das Bewusstsein ist hier ein anderes. Ähnlich ist es in den Pflegeheimen. In den letzten Jahren kam mehr Verständnis und auch Druck vor allem durch die zivilgesellschaftliche Bewegung in die Debatte – weniger aus der Szene selbst. Im Rahmen des Deutschen Pflegetages platzieren wir als DPR seit mehreren Jahren das Thema im Programm, um der Berufsgruppe eine Plattform zum Austausch dazu zu bieten.
Klaus Reinhardt: Dem kann ich mich nur anschließen. Auch wir sehen, dass das Bewusstsein für die Themen Klimawandel und Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen von sehr engagierten zivilgesellschaftlichen Gruppen, wie der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG), geprägt ist. Innerhalb der Ärzteschaft ist das Bewusstsein für die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels, aber auch für unsere Verantwortung für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen in den letzten Jahren massiv gewachsen. Seit 2019 unterstützt die Bundesärztekammer ein internationales Klimaschutzprojekt der renommierten medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“. Konkret bringen wir uns in den sogenannten Policy Briefs für Deutschland im Rahmen des Projektes „Lancet Countdown“ ein. Im Jahr 2019 wurde auch die erste Professur für Klimawandel und Gesundheit in Deutschland an der Charité eingerichtet und mit der Medizinerin und Epidemiologin Sabine Gabrysch besetzt. Im Jahr 2021 hat sich der 125. Deutsche Ärztetag unter der Überschrift „Klimaschutz ist Gesundheitsschutz“ sehr ausführlich mit der Thematik auseinandergesetzt und zahlreiche Beschlüsse gefasst. Immer mehr wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaften befassen sich mit dem Thema. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin hat eine Arbeitsgruppe gegründet, um wissenschaftlich belegte Fakten zum Einfluss des Klimas im Bereich der Inneren Medizin zusammenzutragen, die Rolle des Gesundheitswesens als Mitverursacher des Klimawandels zu beleuchten und konsentierte Empfehlungen zur Prävention und Gesundheitsfürsorge sowie zur CO2-Reduktion in Klinik und Praxis auszuarbeiten. Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte bieten Klimasprechstunden an, in denen Patient:innen beraten werden, wie sie durch Lebensstilveränderungen sich selbst und das Klima schützen können.
Erfreulicherweise sind dies keine Einzelbeispiele. Ich kann wirklich sagen, dass sich etwas tut und die Ärzteschaft das Thema mittlerweile sehr ernst nimmt.
Wir wissen mittlerweile, welche Auswirkungen der Klimawandel auf die Gesundheit der Menschen hat. Haben Sie auch Erkenntnisse, wie sich zum Beispiel Hitzesommer auf den Arbeitsalltag in der Versorgung auswirken?
Christine Vogler: Auch die Pflegenden bekommen langsam eine Ahnung davon, was auf uns zukommt. Sommerlichen Hitze zum Beispiel hat Einfluss auf alle Menschen und deren Gesundheit, auch unmittelbar auf die Pflegenden. Wir wissen aus den Kliniken, dass die Sterbequote um 10% und die Einweisungsquote um 5% stieg. In der ambulanten bzw. stationären Langzeitversorgung gibt es noch keine verlässlichen Zahlen, aber es werden Parallelen vorhanden sein. Pflegefachpersonen brauchen in Hitzeperioden längere Erholungspausen und entsprechende Getränke, um den Flüssigkeitsausgleich zu sichern. Klimaanlagen sind eine Seltenheit in allen pflegerischen Bereichen und gleichzeitig dem Klimaschutz auch nicht zuträglich. Und wenn dann noch Schutzkleidung und Maske angezogen werden müssen, ist ein gesundes Arbeiten kaum mehr möglich. Kurz gesagt: Mehr und versorgungsaufwändigere Patient:innen und Pflegebedürftige, höhere körperliche und seelische Belastung bei den Pflegenden.
Wenn in Hitzeperioden Schutzkleidung und Maske getragen werden, ist ein gesundes Arbeiten kaum mehr möglich.
Klaus Reinhardt: Alle Menschen leiden unter Hitze – Helfende wie Hilfe-Suchende. Mit steigenden Temperaturen kommt es zu Kreislaufbelastung, die kognitiven und psychischen Funktionen werden beeinträchtigt. Es gibt kein Organsystem, das nicht unter Hitze leidet. Hitzetage von über 30 Grad Celsius führen vor allem bei älteren und gesundheitlich vorbelasteten Beschäftigten zu deutlichen gesundheitlichen Problemen. Daher fordern auch wir, dass beim Thema Hitzeschutz sowohl an die Patient:innen gedacht wird als auch an die im Gesundheitswesen Beschäftigten. Der 125. Deutsche Ärztetag 2021 hat die Bedeutung von Hitzeaktionsplänen auch für den gesundheitlichen Schutz am Arbeitsplatz hervorgehoben. Krankenhäuser, Praxen und Pflegeeinrichtungen müssen z.B. mit geeigneten Sonnenschutzsystemen ausgerüstet werden. Hier ist die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers gefordert. Leider kenne ich nach wie vor Gesundheitseinrichtungen, in denen sehr hohe Temperaturen bei Hitzewellen erreicht werden. Dies ist für alle unzumutbar.
Fühlen Sie Ihre Berufsgruppen gut auf die neuen klimabedingten Herausforderungen und Anforderungen vorbereitet? Falls nicht, woran mangelt es?
Klaus Reinhardt: Der Klimawandel nimmt auf vielen Wegen Einfluss auf die menschliche Gesundheit. Hitzewellen können Herz-Kreislauf-Erkrankungen verschlechtern, die Wirkung von Medikamenten verändern, und führen zu Übersterblichkeit. Veränderte Wetterbedingungen ermöglichen es Krankheitserregern, sich in neuen Regionen auszubreiten. Die Pollenflugsaison allergener Pflanzen wird durch wärmeres Wetter verlängert. Die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels müssen noch stärker als bisher erforscht werden, um die Gesundheitsversorgung an den geänderten Bedarf anzupassen.
Die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels sowie erforderliche Anpassungsmaßnahmen müssen noch weitergehender in die Aus-, Weiter- und Fortbildung der Ärzteschaft sowie der Angehörigen anderer Gesundheitsfachberufe integriert werden.
Und das Bewusstsein bei meinen Kolleg:innen muss geschärft werden. Gerade bei vulnerablen Patientengruppen sollten Untersuchungen und Operationen, aber auch Arzttermine an Hitzetagen verschoben bzw. zumindest nicht in der Mittagszeit stattfinden. Die Einnahme der Medikamente muss ggf. angepasst werden. Die Patient:innen sind hierüber, aber möglicherweise auch über die geeignete Lagerung zu informieren. Die Aufklärung der Patient:innen über klimagerechtes Gesundheitsverhalten ist eine wichtige und zentrale medizinische Aufgabe. Zudem muss sichergestellt werden, dass vulnerable Patient:innen während längerer Hitzewellen angemessen untergebracht und versorgt sind.
Christine Vogler: Die pflegerische Berufsgruppe ist immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Das Verständnis, das Wissen und die Maßnahmen zum Thema Klimaschutz sind in den letzten Jahren massiv ins Bewusstsein geraten. Wir können es jeden Tag erleben, wenn – die von Herrn Reinhardt erwähnten Wetterereignisse – Hochwasserkatastrohen, Hitzeperioden und Klimakapriolen bestenfalls nur durch die Nachrichten in unser Leben treten. Die Umsetzung im Berufsalltag ist hier eher schwierig. In Gesundheitseinrichtungen, wo sich das Management aktiv für Klima- und Umweltschutz einsetzt, können auch Mitarbeitende sich einbringen und Ideen entwickeln und Maßnahmen umsetzen. Wo aber keine Priorität und vor allem in der Regel auch keine finanziellen und personellen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, bleibt es dem oder der Einzelnen überlassen in seinem Umkreis dafür zu sorgen. Aber institutionell zu wirken, wird hier kaum möglich sein. Wir werden vieles verändern müssen, um die Klimaziele zu erreichen. Und müssen uns an manchen Stellen verabschieden von bequemen und liebgewonnen Vorgängen. Am Ende wir es nicht nur Geld sein, über das wir reden müssen, sondern auch über Arbeitsabläufe, Zeit und Verständnis.
Sie vertreten zwei große Berufsgruppen in Deutschland, die in den Rankings der vertrauenswürdigsten Berufe immer an oberster Stelle stehen. Tragen die Gesundheitsberufe dann nicht auch eine besondere Verantwortung in der Debatte um die Notwendigkeit von nachhaltigem und klimafreundlichem Handeln?
Klaus Reinhardt: In der Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und Ärzte steht, dass sich sie sich für die Gesundheit des Einzelnen und der Bevölkerung sowie für die Erhaltung der für die Gesundheit der Menschen bedeutenden natürlichen Lebensgrundlagen einzusetzen haben. Aus dieser Verantwortung heraus sehen wir es als ärztliche Pflicht und als wichtiges ärztliches Anliegen, die Auswirkungen des Klimawandels klar zu benennen, die gesundheitliche Bedrohung durch den Klimawandel aufzuzeigen, Gegenmaßnahmen einzufordern und dazu beizutragen, dass sich das Gesundheitssystem auf die Bewältigung der Folgen des Klimawandels vorbereitet und bei jeglichem Handeln zum Wohle der Gesundheit klimaschädliche Auswirkungen vermeidet. So hat es 125. Deutsche Ärztetag im November 2021 festhalten. Wir stehen aber auch vor gewaltigen Transformationen, die nur mit vereinten Kräften und politischer Hilfe bewältigt werden können. Wenn der Gesundheitssektor klimaneutral werden soll, müssen erhebliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden.
Primärer Maßstab der Gesundheitsversorgung müssen immer die Patientinnen und Patienten mit ihrem medizinischen Versorgungsbedarf sein.
Christine Vogler: Absolut – das sehen wir vom Deutschen Pflegerat mit seinen Verbänden genauso. Wir müssen vorbildhaft wirken und vorangehen. Es gibt seit ein paar Jahren auch Arbeitsgruppen, Aktionen und Veranstaltungen zum Thema. Gemessen an der Dimension und Wichtigkeit des Themas aber noch viel zu wenig.
Frau Vogler, unter den Pflegeverbänden ist bisher nur der DBfK mit dem Thema Umgang mit dem Klimawandel öffentlich wirksam aufgetreten. Gibt es seitens des Deutschen Pflegerates eigene geplante Aktivitäten? Wie stehen die Verbände dazu?
Christine Vogler: Uns ist die Wichtigkeit des Themas bewusst. Leider sind die Ressourcen des DPR und seiner Verbände absolut unzureichend, da sie sich aus den Beiträgen der Mitglieder – der Pflegenden – generieren. Und wir arbeiten damit alle vorhandenen und pflegerelevanten Themen ab. Es gibt so unglaublich viel für die Pflege zu tun, dass sich der Klimaschutz in die Reihe des Pflegefachkraftmangels, des Kampfes um die fehlende Selbstverwaltung und Neuordnung der Kompetenzzuschnitte, ganz abgesehen von den fehlenden durchgängigen Bildungsstrukturen, einreihen muss.
Herr Reinhardt, eine Nachfrage zum erwähnten 125. Deutsche Ärztetag 2021. Welche konkreten Aktivitäten haben Sie als Bundesärztekammer und die Ärzteschaft daraufhin gestartet?
Klaus Reinhardt: Uns ist sehr bewusst, dass der Gesundheitssektor selbst ein auslösender Faktor für den Klimawandel ist, und somit Mitverursacher von gesundheitsschädlichen Faktoren. Erfreulicherweise haben sich in den letzten Jahren schon viele Einrichtungen auf den Weg gemacht, CO2-Emissionen zu reduzieren und klimafreundlicher zu werden. Hierzu gehört auch die Bundesärztekammer. Der Vorstand hat sich im August 2021 dafür ausgesprochen, die Geschäftsstelle inklusive der Gremiensitzungen sowie das Verwaltungshandeln der Bundesärztekammer bis zum Jahr 2030 klimaneutral auszugestalten. Seither arbeiten wir daran dieses Ziel zu realisieren. Darüber hinaus haben wir unsere Forderungen und Vorschläge für Hitzeaktionspläne in der Politik platziert und sind darüber im Austausch. Und natürlich arbeiten wir weiter eng mit zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Klimaschutzinitiativen zusammen, wie der bereits erwähnten Initiative KLUG sowie mit unseren Partnern im Lancet Countdown. Unser Ziel ist, der Politik konkrete Handlungsempfehlungen zum Klima- und Gesundheitsschutz an die Hand zu geben.
Vereinzelt gibt es bereits die Forderung, Nachhaltigkeit in das SGB aufzunehmen. Sollten die Leitprinzipien Zugang, Wirtschaftlichkeit und Qualität um die Anforderung Umweltverträglichkeit ergänzt werden?
Klaus Reinhardt: Vor dem Hintergrund, dass unser Gesundheitswesen ein beträchtliches Potenzial hat, selbst einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten und damit die öffentliche Gesundheit zu schützen sowie Lebensqualität zu fördern, kann ich diese Forderung nachvollziehen. Primärer Maßstab der Gesundheitsversorgung müssen dabei immer die Patient:innen mit ihrem medizinischen Versorgungsbedarf sein. Wie genau die Verankerung von Nachhaltigkeit und dessen Finanzierung vor dem Hintergrund medizinischer Bedarfsnotwendigkeit im Gesundheitswesen erfolgen kann, müssen die wesentlichen Akteure gemeinsam beraten und festhalten.
Christine Vogler: Ich glaube tatsächlich, dass es einen solchen Schritt braucht. Klimaschutz und Nachhaltigkeit müssen als Querschnittsthemen ab sofort in alle betreffenden Gesetzesvorhaben einwandern – nicht nur ins SGB. Selbstverständlich und ohne Aufregung. Ich denke hier immer an die Einführung der Gurtpflicht. Obwohl allen klar war, dass Gurte Menschenleben schützen, gab es einen Aufstand sondergleichen. Der Gesetzgeber war damals mutig und folgte den Erkenntnissen der Forschung. Heute stellt die Gurtpflicht keiner mehr infrage – im Gegenteil. Und es hat tausende von Menschenleben geschützt.
Und genau das sollte heute passieren. Der Gesetzgeber sollte den Erkenntnissen der Forschung folgen. Leider reicht ein Gesetz – quasi ein Gurtgesetz fürs Klima – nicht aus, sondern viele Gesetze müssen überprüft und angepasst werden. Es müssen Ressourcen für Forschung bereitgestellt und der Klimaschutz ein Handlungsparadigma des Gesetzgebers werden. Dann wird es am Ende in ein paar Jahrzehnten rückblickend vielen Menschen das Leben besser gemacht und abertausenden das Leben gerettet und der nachfolgenden Generation eine Zukunft geschenkt haben.