Exkurs: Cradle to Cradle
im Gesundheitswesen –
Eine InnovationschanceMichael Braungart

Städte wie Berlin, München, Hamburg usw. wollen bis zum Jahr 2040 oder 2050 klimaneutral sein. Was für viele von uns ambitioniert klingt, ist bei genauerer Betrachtung ein trauriges Ziel, mit dem wir weit hinter unseren Möglichkeiten und denen anderer Lebewesen zurückbleiben. Kein Baum ist klimaneutral, ein Baum ist gut für die Umwelt und gut fürs Klima. Ein Baum bindet Kohlendioxid aus der Atmosphäre und speichert es im Holz. Wollen wir also tatsächlich dümmer als Bäume sein?

Prof. Dr. Michael Braungart

Michael Braungart lehrt an der Leuphana Universität in Lüneburg. Zudem ist er Gründer von EPEA Internationale Umweltforschung GmbH in Hamburg, der Wiege von Cradle to Cradle. Darüber hinaus ist er Mitbegründer und wissenschaftlicher Leiter von McDonough Braungart Design Chemistry (MBDC) in Charlottesville, Virginia (USA) sowie Gründer und wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Umweltinstituts (HUI). Michael Braungart ist einer der beiden Begründer des Cradle to Cradle-Designkonzepts, welches die Basis für den Green Deal und des Circular Economy-Programms der Europäischen Union ist. Gemeinsam mit Organisationen und Unternehmen unterschiedlicher Branchen gestaltet Michael Braungart ökoeffektive Produkte, Geschäftsmodelle und intelligentes Material Pooling. Für seine Arbeit wurde er unter anderem im Jahr 2007, gemeinsam mit William McDonough, als Hero of the Environment vom Time Magazine ausgezeichnet.

Traditionell denken Menschen, sie schützten die Umwelt, wenn sie etwas weniger zerstören: Reduziere den Energieverbrauch, den Wasserverbrauch! Minimiere die Abfallmenge! So heißt das Gebot: Reduce, Reuse, Recycle. Das bedeutet allerdings, dass die falschen Dinge optimiert werden. Man schützt die Umwelt nämlich nicht, indem man sie etwas weniger zerstört. So wie man kein Kind schützt, wenn man es nur fünfmal anstatt zehnmal schlägt. In dieser Logik hat ein Land wie bspw. Bulgarien die Umwelt so viel besser „geschützt“ als der Westen, einfach durch Ineffizienz. Es ist aber nötig, dass wir, so wie die anderen Lebewesen, nützlich für den Planeten sind und nicht nur weniger schädlich.

Man schützt die Umwelt nicht, indem man sie weniger zerstört.

Die Biomasse der Ameisen ist weitaus größer als die der Menschen. Der Kalorienverbrauch der Ameisen entspricht etwa dem von 30 Milliarden Menschen. Gibt es daher ein Überbevölkerungsproblem durch Ameisen? Wohl kaum, im Gegenteil: Die Ameisen sind z.B. elementar wichtig für den brasilianischen Regenwald, denn sie bringen die Nährstoffe immer wieder in Kreisläufe zurück. Der Mensch hingegen ist das einzige Lebewesen, das Abfall produziert. Auch wenn wir die Abfallmenge reduzieren, wird unser Planet, wenn auch etwas später, zu einer einzigen Müllhalde. Für das Überleben des Planeten sind andere Sichtweisen zwingend geboten, besonders in der Chemie- und Pharmaindustrie.

Produkte der Chemie- und Pharmaindustrie leisten in vielen Anwendungsbereichen Großartiges. Wenn es allerdings um die Gesundheits- und Umweltverträglichkeit geht, sind sie vielfach erstaunlich primitiv. Medikamente beispielsweise: Das Umweltbundesamt hat in mehreren Untersuchungen Arzneimittel in allen Gewässerarten nachgewiesen, insgesamt mehr als 150 Wirksubstanzen (Amato et al. 2014). Dabei handelt es sich um Schmerzmittel wie Ibuprofen oder Diclofenac aber auch Zytostatika, Kontrastmittel und viele hormonell wirksame Substanzen, die das biologische Gleichgewicht massiv gefährden. Dies gilt besonders für Antibiotika. Im Ablauf von Kläranlagen wurden bereits eine Vielzahl multiresistenter Keime nachgewiesen. Es müssten in Zukunft Medikamente mit Sollbruchstellen entwickelt werden, die in der Kläranlage abgebaut werden können. Im Interesse der Allgemeinheit muss Diclofenac sofort verboten werden, da es dafür andere Schmerzmittel gibt, die sich nicht in der Umwelt anreichern.

Papiertaschentücher oder Einmalhandtücher, wie sie auch im Gesundheitswesen verwendet werden, verbleiben nach der Verwendung über Jahrzehnte in der Umwelt, weil sie primitive Nassfestigkeitsstabilisatoren auf Epichlorhydrin-Polymer-Basis enthalten. Es sind also eigentlich Plastiktaschentücher mit Zellulosekern.

Nach mehr als zwei Jahren der Corona-Pandemie ist es noch immer nicht gelungen, biologisch abbaubare Einwegmasken ohne Mikroplastik herzustellen. Bereits jetzt treiben, nach verschiedenen Schätzungen, mehr als zwei Milliarden dieser Masken in den Weltmeeren umher und werden sich dort über Jahrhunderte allmählich zu Mikroplastik zersetzen (Reeve 2021). Sie bestehen im Wesentlichen aus Polypropylen mit unterschiedlichen Zusätzen, UV-Stabilisatoren, Antioxydantien, Katalysatorenrückständen usw. (s. Abb. 1). Die Polypropylen-Fasern fransen aus und zerkleinern sich zu Mikroplastik. Ebenso wie bei Arzneimitteln wäre es notwendig, positiv zu definieren, was für Materialien in Schutzmasken eingesetzt werden und es müsste eine echte Kreislaufführung dieser Masken ermöglicht werden. In vielen Ländern werden Schadstoffe in Masken gefunden (SW 2021).

Abb. Chromatogramm einer FFP2-Maske (© Hamburger Umweltinstitut e.V./Bremer Umwelt- institut)

Chromatogramm einer FFP2-Maske (© Hamburger Umweltinstitut e.V./Bremer Umwelt- institut)

Die FFP2-Masken sind nicht für die Langzeitverwendung und zur Filterung von Viren konzipiert und nach Arbeitsschutzverordnung auch nicht in diesem Sinne zugelassen, primär werden sie als Staubmasken zum Verkauf in Baumärkten angeboten. Auch die medizinischen Masken sind nicht für eine tagelange Verwendung gedacht, sie werden als Einmalprodukte für jeweilige Anwendungszwecke eingesetzt und sind medizinischer Sondermüll.

Ob Kinderspielzeug (Weichmacher, Schwermetalle) oder Thermopapiere, Flammschutzmittel und Antihaftbeschichtungen in Bratpfannen – insgesamt ist der Staat nicht in der Lage, die Bevölkerung und die anderen Lebewesen der Erde adäquat vor problematischen Umweltchemikalien zu schützen. Es gelingt noch nicht mal, krebserregende Azofarbstoffe, wie sie bspw. in Aperol Spritz enthalten sind (Braungart u. Hengstmann 2020), die selbst in den USA als stark krebserzeugend eingestuft werden, vom Markt zu nehmen. Der Verbraucherschutz ist nicht ausreichend vorhanden, die entsprechenden staatlichen Untersuchungsbehörden sind finanziell und personell nicht hinreichend ausgestattet.

Es ist ein Rätsel: Wie kann die Industrie Produkte herstellen, ohne darüber nachzudenken, wo und wie sie in der Umwelt landen? Wie kann sie Materialien entwickeln und deren späteren Verbleib in der Umwelt der Allgemeinheit als Bürde aufhalsen? Der Gewinn wird privatisiert und das Risiko vergesellschaftet.

Wenn Gebäude wie Kliniken, Krankenhäuser, Arztpraxen usw. lediglich versiegelt und gasdicht gemacht werden, ist die Raumluftqualität in den Gebäuden etwa drei- bis achtmal schlechter als schlechte städtische Außenluft. Es muss daher sichergestellt werden, dass die Luft in Gebäuden besser ist als draußen und dass Asthma (häufig hervorgerufen durch die Exposition mit hoher Luftfeuchtigkeit in Innenräumen und Schimmel) nicht mehr die häufigste chronische Kinderkrankheit ist. Es hat also keinen Sinn, das Bestehende zu optimieren, vielmehr muss es darum gehen, statt nach Effizienz zuerst nach Effektivität zu fragen – also: Was ist das Richtige? Denn sonst macht man das Falsche perfekt und damit perfekt falsch.

Cradle to Cradle geht einen anderen Weg: Denn, wenn wir als Menschheit eine Zukunft auf dem Planeten haben wollen, bleibt uns nichts anderes übrig, als nützlich für die anderen Lebewesen zu sein und nicht nur weniger schädlich. Denn für „weniger schädlich“ sind wir viel zu viele Menschen auf diesem Planeten. Es ist notwendig zu begreifen, dass die Menschen anstatt einer Belastung eine Chance für diesen Planeten sein können.

Dies bedeutet, den Begriff Abfall abzuschaffen und im Gegenzug alles zu Nährstoffen werden zu lassen. Materialien, die verschleißen, gelangen als Nährstoffe in die Biosphäre; Produkte, die ohne Verschleiß genutzt werden können, müssen am Ende der Nutzung der Technosphäre zugeführt werden. Schuhsohlen, Bremsbeläge, Kleidungsstücke usw. werden verbraucht, Waschmaschinen oder Fernseher hingegen werden nicht verbraucht, sondern lediglich genutzt. Es gibt also nur biologische und technische Nährstoffe.

Wollen wir den Begriff Abfall abschaffen, müssen wir unsere Beziehung zu Produkten neu denken. Es muss erreicht werden, dass alle medizinischen Geräte Dienstleistungen werden. Niemand braucht einen Behandlungsstuhl oder ein Röntgengerät, man braucht lediglich die Dienstleistung der Nutzung. Der Hersteller behält das Eigentum, es wird nur das Nutzungsrecht abgegeben. Dann können viel bessere und kreislauffähige Materialien verwendet werden, da der Hersteller so ein Interesse daran hat, nicht nur auf einen kurzfristigen Profit zu achten, sondern die einzelnen Komponenten des Produkts wieder zurückzuerhalten und an anderer Stelle wieder einzusetzen. Alle Verbrauchsmaterialien müssen so gestaltet werden, dass sie perfekt in biologische Systeme zurück gelangen können, nachdem sie zuvor in einem Autoklaven sterilisiert wurden.

Anders als Deutschland hat die Europäische Union dieses Konzept (bspw. Waschmaschinen als Dienstleistung) inzwischen aufgegriffen. Der Green Deal ist zum großen Teil auf diesen beiden Nährstoffkreisläufen (Biosphäre und Technosphäre) aufgebaut. Forschungseinrichtungen dienen jedoch eher dazu, das Bestehende zu optimieren und zu variieren. So war bereits in den 80er-Jahren bekannt, dass Flammschutzmittel in Kunststoffen die Fruchtbarkeit von Eisbären zerstören und Weichmacher in PVC das Hormonsystem drastisch beeinflussen. Im Ergebnis gab es nur weitere Untersuchungen, um dann erst vor wenigen Jahren in Teilbereichen Verbote zu erreichen.

Um großen Herausforderungen zu begegnen, braucht es Ideen, die über den Status quo hinaus gehen. Warum denken und gestalten wir nicht ein Gesundheitswesen, das nicht nur klimaneutral, sondern stattdessen CO2-positiv ist? So wie Bäume! Das heißt, Gebäude wie Bäume zu gestalten, Städte wie Wälder, das CO2 aktiv zu speichern. Verpackungsmaterialien und medizinische Produkte herzustellen bzw. nur noch solche zu beziehen und zu verwenden, die für die Biosphäre oder Technosphäre geeignet sind. Hierbei kann das Gesundheitswesen eine Vorreiterrolle einnehmen: Gesundheit für Mensch und Natur. Wie wäre es, das Gesundheitswesen als Schlüssel für echte Innovationen zu nutzen? Wie wäre es, als Ziel auszugeben, klimapositiv zu werden und dies konkret in Pläne umzusetzen? Wie wäre es, wenn in Deutschland in 10 Jahren nur noch Kunststoffe verwendet werden würden, die aus dem CO2 der Erdatmosphäre gewonnen werden und nur solches Mikroplastik verursachen, welches biologisch abbaubar gesundes Plankton ergibt? Anstatt den Recyclinganteil von Kunststoffen, die nie für Recycling entwickelt worden sind, zu erhöhen und das Gewicht dieser unsinnigen Kunststoffe etwas zu reduzieren, braucht es ein neues Denken. Wie wäre es, Kliniken als wirkliche Gesundheitszentren zu konstruieren, in denen die Luft besser ist als draußen? Gebäude, die die Luft reinigen? Gebäude wie Bäume, die das Wasser reinigen und nicht bloß „weniger schädlich“ sind? Gebäude, die die Artenvielfalt unterstützen?

Es ist zwingend notwendig, klimapositiv zu sein – nicht bloß klimaneutral.

Jedem aufmerksamen Beobachter fällt doch auf, dass sich der Planet durch die aktuelle Konzentration an Treibhausgasen bereits jetzt selbst zerstört. Ein 1,5-Grad-Ziel ist daher halbwegs unsinnig. Stattdessen ist eine konkret positive Zielsetzung der Schlüssel: Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre sollte im Jahr 2100 wieder dem CO2-Gehalt des Jahres 1900 entsprechen. Wir müssen aktiv die Konzentration von aktuell 420 ppm wieder auf 280 ppm absenken. Klimapositiv zu sein ist die zwingende Notwendigkeit – nicht klimaneutral. Dann werden die Menschen zu einer Chance für diesen Planeten.

Literatur

Amato R, Ebert I, Hein A, Konradi S (2014) Arzneimittel in der Umwelt – vermeiden, reduzieren, überwachen. In: Hintergrund April 2014, Umweltbundesamt. URL: https://www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/378/publikationen/01.08.2014_hintergrundpapier_arzneimittel_final_.pdf (abgerufen am 12.08.2022)

Braungart M, Hengstmann R (2020) Mehr Verbraucherschutz bei Inhaltsstoffen in Lebensmitteln: Kein leuchtendes Vorbild. In: Wissenswert. 26–28. URL: https://wissenswertjournal.de/wordpress/wp-content/uploads/2021/01/wissenswert_2020_01.pdf (abgerufen am 12.08.2022)

Reeve S (2021) Pandemiemüll gefährdet Tiere – 1,5 Milliarden Einwegmasken landen in Meeren. In: ntv.de. URL: https://www.n-tv.de/panorama/1-5-Milliarden-Einwegmasken-landen-in-Meeren-article22311285.html (abgerufen am 12.08.2022)

SW (2021) Nach Belgien – Luxemburger Firma lieferte schädliche Masken aus. In: L’essentiel. URL: https://www.lessentiel.lu/de/story/luxemburger-firma-lieferte-schaedliche-masken-aus-886364357201 (abgerufen am 12.08.2022)