Das Nachhaltigkeitsdilemmaim deutschen
Gesundheitswesen
Jürgen Graalmann, Tim Rödiger,
Kerstin Blum und Friederike Kreßler

Was ist ein nachhaltiges Gesundheitswesen?

Nachhaltigkeit ist zu einem Modewort geworden. In jeder Branche und auch im Gesundheitswesen wird es immer häufiger verwendet, wenn auch die konkrete Bedeutung oft schwammig bleibt. Die in den letzten Jahren prominenter gewordene Diskussion um die Klimakrise fokussiert auf eine Definition von Nachhaltigkeit, die speziell die ökologische Modernisierung von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen in den Mittelpunkt stellt. Doch die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung hat bereits 1987 eine breitere Definition vorgelegt: „Eine nachhaltige Entwicklung entspricht den Bedürfnissen der heutigen Generation, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen“ (Hauff 1987, S. 46). Diese breitere Definition zielt darauf ab, drei Bedürfnisdimensionen miteinander zu vereinen: ökonomisch, ökologisch und sozial. Diese gelten auch für das Gesundheitswesen.

  • Ökonomische Bedürfnisse zielen auf die Bezahlbarkeit und die Effektivität der Gesundheitsversorgung ab, das heißt, wie viel Gesundheit je eingesetztem Euro „produziert“ wird (Graalmann et al. 2021a).
  • Ökologische Bedürfnisse beziehen sich auf die Umweltverträglichkeit, zum Beispiel mit Blick auf Ressourcenverbrauch und die Produktion von Emissionen und anderer Abfälle sowie die Anpassungsfähigkeit etwa bei Hitze oder neuartigen Gesundheitsgefahren.
  • Soziale Bedürfnisse bezeichnen vor allem einen gleichwertigen Zugang zur Gesundheitsversorgung unabhängig von Alter, Einkommen, Gesundheitszustand oder Wohnort der Patient:innen (vgl. Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie 2021).

Die Bedürfnisbefriedigung der heutigen Generation soll also die künftigen Generationen nicht gefährden und die Nutzung von Ressourcen in allen Dimensionen so erfolgen, dass das System auch über Generationen hinweg seine Ziele erfüllen kann.

Ob der Einsatz von Ressourcen im Gesundheitsweisen ökonomisch, ökologisch oder sozial nachhaltig ist, richtet sich vor allem nach den für das System gesetzten Zielen in diesen drei Bedürfnisdimensionen bei einem zeitlichen Betrachtungszeitraum von mindestens 25 Jahren – also über eine Generation hinweg.

Die Zeitachse folgt dabei einer rollierenden Logik. Es geht am Ende um die Frage, ob die politischen, medizinischen und finanziellen Entscheidungen, die jetzt über den Ressourceneinsatz getroffen werden, auch aus Sicht der folgenden Generation(en) – in 25 oder 50 Jahren – nachhaltig sind. Es spielt keine Rolle, ob die Babyboomer den Millennials geschadet haben oder die Generation Y nachhaltiger lebt als die Generation Z.

Die internationale Gemeinschaft erzielte bei der nachhaltigen Ausrichtung unserer Gesellschaft bereits große Fortschritte. Internationale Klimaabkommen, die Definition von Grenzwerten, die Determinierung von Nachhaltigkeitszielen für ökonomische, ökologische und soziale Bedürfnisse bieten eine gemeinschaftliche Grundlage, um einen nachhaltigen Ressourcenverbrauch zu erlangen. Dennoch gelingt es Akteuren in vielen Ländern, Branchen und Institutionen nicht, ihre Entscheidungen stringent an diesen Zielen auszurichten – das trifft auch für das deutsche Gesundheitswesen zu. Aus ökologischer Sicht verbraucht das Gesundheitswesen heute 80 Prozent mehr Rohstoffe als Mitte der 1990er-Jahre und eine weitere Zunahme gilt als wahrscheinlich (Fraunhofer ISI 2021). Der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen wird vor allem für die Pflege, aber auch für die Ärzteschaft bereits seit Jahren klar prognostiziert, aktuell beziffert das Deutsche Krankenhausinstitut die Lücke allein bei den Pflegepersonen auf 187.000 Vollzeitbeschäftigte bis 2030. Und auch mit den finanziellen Ressourcen des Systems wird nicht nachhaltig umgegangen: Die strukturelle Finanzlücke in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) wächst trotz zahlreicher gesetzgeberischer Maßnahmen beständig an. So steht die GKV aktuell für 2023 vor einem Finanzierungsdefizit von 17 Milliarden Euro, einem neuen Höchstwert. Gleichzeitig droht immer mehr Krankenhäusern die Schließung und insbesondere strukturschwache Regionen stehen angesichts der Altersstruktur der niedergelassenen Ärzte und Apotheken vor der Herausforderung, einen dauerhaften Zugang zur Versorgung ermöglichen zu können.

Der Umgang mit Ressourcen im deutschen Gesundheitswesen ist gemessen am Versprechen einer guten, bezahlbaren Versorgung für jeden unabhängig vom Wohnort in keiner der genannten Dimensionen nachhaltig.

Angefeuert wird dies von der Zunahme der Lebenserwartung – ein medizinischer Erfolg, der aber leider gleichzeitig auch zu einer Zunahme der in Krankheit verbrachten Jahre führte. So stieg die Lebenserwartung in den letzten 60 Jahren international zwar von 54 auf 73 Jahre. Der Anteil der in Krankheit verbrachten Jahre stagniert aber bei 50 Prozent (s. Abb. 1, McKinsey Health Institute 2022). Die mit jeder Generation angestiegene Zahl der in Krankheit verbrachten Jahre führt im zweiten Schritt zu einem immer höheren Ressourcenbedarf und -einsatz in allen Bereichen.

Abb. 1 Zunahme von Lebenserwartung und in Krankheit verbrachten Jahren
(McKinsey Global Institute Prioritizing Health Report; McKinsey Health Institut Analyse, eigene Übersetzung)

Weltweit steigt die Lebenserwartung, aber nicht die in Gesundheit verbrachte Zeit.

In den vergangenen 60 Jahren hat sich die Lebenserwartung massiv verbessert… Durchschnittliche weltweite Lebenserwartung und gesunde Jahre

… aber der Anteil an Lebenszeit, der in schlechter oder mäßiger Gesundheit verbracht wird, hat sich nicht verändert.

1 auf Annahmen basierende Extrapolation des Anteils der guten/ok Gesundheit aus den Daten für 2019
2 auf Annahmen basierende Extrapolation des Anteils über geographische Gebiete hinweg

Das Nachhaltigkeitsdilemma des deutschen Gesundheitswesens

Um zu verstehen, wie es zu diesem steigenden, nicht nachhaltigen Ressourcenverbrauch im deutschen Gesundheitswesen kommen konnte, hilft der Blick auf das Nachhaltigkeitsdilemma unseres Systems. Dieses ergibt sich aus dem Widerspruch zwischen der für ein nachhaltiges System notwendigen beschriebenen langfristigen Perspektive bei Bedürfnissen und Zielen und den bisher kurzfristig ausgerichteten Anreizen für Akteure bei wirtschaftlichen Entscheidungen.

Das deutsche Gesundheitssystem arbeitet wirtschaftlich in einer Jahreslogik. Haushalte der Krankenkassen sowie Vergütungsvereinbarungen mit Krankenhäusern und Gesundheitsberufen werden auf Jahressicht vereinbart. Politische Entscheidungsträger sind immer noch stark auf jährlich ausgeglichene Haushalte fokussiert. Aktuell zeigt sich das deutlich am GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, welches versucht, das erwähnte 17 Milliarden Euro schwere GKV-Finanzierungsdefizit ausschließlich für dieses eine Jahr zu decken.

Die Akteure stecken in einer Zwickmühle. Verhalten sie sich nachhaltig, steigt ihr Marktaustrittsrisiko. Verhalten sie sich kurzfristig wirtschaftlich, werden sie den Ansprüchen und Zielen an ein nachhaltiges Gesundheitswesen nicht gerecht. Es droht ein Akzeptanzverlust.

Der gesellschaftliche Druck hin zu mehr Nachhaltigkeit, der über Kunden und Beschäftigte auf die Institutionen und Unternehmen wirkt, besteht ohne Zweifel. Gleichzeitig steigt jedoch der kurzfristige wirtschaftliche Druck, ausgelöst vom wachsenden strukturellen Finanzierungsdefizit der GKV, einer breiten Inflation und explodierenden Energiekosten. Während der wirtschaftliche Druck zunimmt, sinken die Handlungsmöglichkeiten. Die hohe Regulierungsdichte, eine historisch gewachsene strukturkonservative Kultur sowie die kurzfristig angelegte Jahreslogik erschweren Veränderungen. Das Nachhaltigkeitsdilemma vergrößert sich.

Die Jahreslogik führt bereits ohne Berücksichtigung ökologischer Aspekte zu Zielkonflikten. Wirtschaftlich getriebene, kurzfristige Einsparungen gefährden den Zugang zu und die Qualität der Versorgung. Die kurzsichtige Jahreslogik erklärt zusammen mit Mengenanreizen auch die im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hohen Arztbesuche und operativen Eingriffe in Deutschland, die einen erhöhten Ressourcenverbrauch nach sich ziehen. Seien es Mengenvorgaben für Operationen an die Ärzteschaft in den Krankenhäusern oder Veränderungsraten für die Vergütung der niedergelassenen Ärzte. Verhandelt werden hauptsächlich prozentuale Steigerungsraten, die vergleichen, wie viel mehr Interventionen im Vergleich zum Vorjahr stattfinden sollen bzw. dürfen. Dabei spielt es wirtschaftlich eine nachgelagerte Rolle, ob einzelne Interventionen medizinisch sinnvoll oder nachhaltig sind.

Ein anschauliches Beispiel ist die Investitionskostenspirale der Krankenhäuser (Graalmann et al. 2021b). Diese erhalten seit Jahren zu geringe Investitionskosten von den zuständigen Ländern. Um dennoch ein ausgeglichenes Finanzergebnis zu erreichen, versuchen die Krankenhäuser die fehlenden Investitionsmittel über zusätzliche Eingriffe auszugleichen. Sie gehen „in die Menge“. Dadurch steigen nicht nur die Betriebskosten und der Ressourcenverbrauch, sondern auch der Investitionsbedarf. Die Investitionskostenspirale schraubt sich immer weiter nach oben. Inflationsbereinigt hat sich die Fördersumme der Länder seit 1991 halbiert (vgl. DKG 2022a). Krankenhäuser, welche die notwendigen Mengen nicht generieren, laufen Gefahr, in die roten Zahlen zu rutschen. So machen nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft aktuell etwa 60 Prozent der Krankenhäuser in Deutschland Verluste (DKG 2022b).

Jürgen Graalmann

Jürgen Graalmann ist seit 25 Jahren im Gesundheitswesen aktiv. Nach Studium und Stationen in der privaten Krankenversicherung, lange Jahre Leiter Gesundheits- und Unternehmenspolitik der BARMER, danach AOK-Politik-Geschäftsführer und bis 2015 Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes. Er ist Gründer und Geschäftsführer der Berliner Konzept- und Beteiligungsagentur Die BrückenKöpfe sowie Geschäftsführer des Deutschen Pflegetages, den er 2014 mit initiiert hat.

Tim Rödiger

Tim Rödiger arbeitete nach Ausbildung und Studium zum Diplom Kaufmann (FH) als Sachgebietsleiter Risikomanagement in der BARMER Hauptverwaltung und wechselte 2008 zum AOK-Bundesverband, wo er bis 2016 die Leitung der Unternehmensentwicklung verantwortete. Seit 2017 arbeitet er bei den BrückenKöpfen als Partner mit dem Schwerpunkt Strategie.

Kerstin Blum

Kerstin Blum ist Geschäftsführerin der Stiftung Gesunde Erde – Gesunde Menschen, die sie seit 2019 zusammen mit dem Gründer Eckart von Hirschhausen aufbaut. Zudem entwickelt sie als Senior Project Manager der Berliner Konzept- und Beteiligungsagentur Die BrückenKöpfe Strategien zum Thema „Nachhaltigkeit im deutschen Gesundheitswesen“. Sie greift zurück auf mehr als 15 Jahre Erfahrung im gesundheitspolitischen Umfeld mit wechselnden Perspektiven: als Mitarbeiterin im Bundestagsbüro, als Projektmanagerin bei der Bertelsmann Stiftung und als Abteilungsleiterin eines großen Krankenkassenverbandes

Friederike Kreßler

Friederike Kreßler arbeitet seit 2022 als Projektmanagerin bei den BrückenKöpfen. Nach dem Studium sammelte sie umfangreiche Erfahrungen im gesundheitspolitischen Umfeld als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag, Referentin im Bundesministerium für Gesundheit und Vorstandsreferentin im AOK-Bundesverband.

Nachhaltiges Verhalten wird abgestraft

In dieser Situation ist es für die handelnden Akteure schwierig zu hinterfragen, ob eine medizinische Intervention nach der oben genannten Definition nachhaltig ist. Vielmehr bedeutet eine umfassende Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsdimensionen ein erhöhtes wirtschaftliches Risiko. Ein Verzicht auf medizinisch fragwürdige Eingriffe verschlechtert den kurzfristigen Deckungsbeitrag. Die Vermeidung von Doppeluntersuchungen oder wirtschaftlich weniger lukrative Verfahren, wie Heimdialyse, bedeuten Umsatzrückgänge und weniger Auslastung der vorgehaltenen Maschinen. Ein zunächst teureres, aber umweltverträglicheres Material erhöht die Betriebsausgaben ohne Erlössteigerung. Das Gleiche gilt für Investitionen, die in der kameralistischen Jahreslogik hauptsächlich als Aufwände wahrgenommen werden und weniger als Schaffung von langfristig wirtschaftlichen Vermögenswerten. So bedeutet eine Investition in eine nachhaltigere Energieversorgung eines Krankenhauses zunächst Mehrkosten, obwohl langfristig die Betriebskosten durch geringere Stromkosten oder weniger Energiebedarf sinken. Ob sich solche Investitionen wirtschaftlich lohnen, entscheidet sich maßgeblich an der Frage des gewählten Betrachtungszeitraums.

Jede dieser Maßnahmen erhöht für nachhaltig agierende Akteure kurzfristig ihr wirtschaftliches Risiko aus dem Markt auszuscheiden. Dagegen werden kurzfristig, nicht nachhaltig handelnde Akteure bessere Ergebnisse erzielen und Marktanteile gewinnen können.

Unter diesen Rahmenbedingungen und Anreizen wird eine Transformation zu einem nachhaltigen Gesundheitswesen systematisch behindert, wie der Anstieg des Ressourcenverbrauchs der letzten Jahre in Deutschland zeigt. Der steigende Ressourcenverbrauch ist systemisch bedingt.

Die neue ökologische Dimension – zusätzliche Anforderungen ans System

Ein Symptom für diese systemisch bedingte Ressourcenverschwendung im deutschen Gesundheitswesen ist die bis heute fehlende ökologische Dimension der Umweltverträglichkeit, die in den maßgeblichen Sozialgesetzbüchern, Verordnungen, Rahmenvereinbarungen oder Ausschreibungskriterien nicht oder nur am Rande berücksichtigt ist. Eine effiziente Nutzung von Rohstoffen oder Energiequellen, die Vermeidung von Abfällen – dies sind Anforderungen, die an Akteure im Gesundheitswesen bisher nicht gestellt wurden. Stattdessen wirken Anforderungen, etwa im Bereich der Hygiene, mit dem Ziel einer besonders hohen Qualität bei gleichzeitiger Wirtschaftlichkeit dem Konzept ökologischer Nachhaltigkeit entgegen – man denke nur an den beständig steigenden Anteil von Einwegprodukten.

Dabei ist der Zusammenhang von steigendem Behandlungsbedarf und steigendem ökologischen Ressourcenverbrauch nicht zwingend. So zeigen Vergleiche mit dem National Health Service (NHS) in Großbritannien, dass es dort deutlich besser gelungen ist, Ressourcen nachhaltiger einzusetzen und den Ressourcenverbrauch deutlich zu senken (s. Kap. II.6). So konnte der CO2-Fußabdruck des NHS seit 2010 um 30 Prozent reduziert werden. 2021 erweiterte der NHS seine Net-Zero-Strategie auch um die Lieferketten der Produzenten, die nun bis 2040 ebenfalls klimaneutral agieren müssen, um den NHS noch beliefern zu können. Der NHS macht Nachhaltigkeit zur Voraussetzung für die Marktteilnahme. Das hat auch Wirkung auf die globalen Märkte. Für die Transformation des NHS werden vom Staat die notwendigen Investitionsmittel bereitgestellt. Davon kann in Deutschland bisher keine Rede sein. Hier treffen massive Bedarfe an Investitionen für mehr ökologische Nachhaltigkeit auf die beschriebene unzureichend finanzierte Infrastruktur. Ein Umdenken scheint auch nicht in Sicht. So ist im bis 2026 rund 177 Mrd. € umfassenden Klima- und Transformationsfonds bisher kein einziger Euro explizit für das Gesundheitswesen vorgesehen, obwohl der Sektor mehr CO2 emittiert als der Flugverkehr in Deutschland (HCWH 2019).

Nachhaltigkeit im Gesundheitswesen braucht systemische Verankerung

Um das beschriebene Nachhaltigkeitsdilemma aufzulösen, braucht es vor allem veränderte Anreize. Erst wenn sich nachhaltiges Handeln mehr lohnt als kurzsichtige, nicht nachhaltige Ergebnisoptimierung, kann der Übergang zu einem nachhaltigen Gesundheitswesen Fahrt aufnehmen.

In skandinavischen Ländern oder dem NHS ist das mit Blick auf ökonomische, soziale und ökologische Bedürfnisse besser gelungen, weil sie neben den drei Bedürfnisdimensionen eine weitere Dimension berücksichtigen, die wir im Folgenden systemische Verankerung nennen (s. Kap. II.6). Die systemische Verankerung (s. Abb. 1) stellt sicher, dass es nicht nur nachhaltige Ziele gibt, sondern dass die Ziele auch erreicht werden, weil es sich für die handelnden Akteure lohnt.

Abb. 2 Nachhaltigkeit im System verankern

Die Kernfrage lautet: Wie synchronisieren wir die zeitliche Perspektive der langfristigen Nachhaltigkeitsziele mit den kurzfristigen Entscheidungen der Akteure?
Die notwendige Synchronisierung kann über zwei wesentliche Handlungsfelder erfolgen:

  1. Integration der ökologischen Dimension ins Gesundheitswesen durch Regulierung des Marktzugangs und Einpreisung ökologischer Folgekosten
  2. Vorfinanzierung der Transformation der Versorgungsstrukturen zu einer nachhaltigen medizinischen Infrastruktur

Entscheidend hierfür sind nicht abstrakte Apelle, sondern der ordnungspolitische Wille zu einem systemischen Wandel unter Berücksichtigung eines breiten Nachhaltigkeitsbegriffs.

Integration der ökologischen Dimension in das Gesundheitswesen

Die EU-weite Einführung von Grenzwerten sowie Vorgaben zum Nachweis des CO2-Verbrauchs von Produkten und Dienstleistungen bieten, wie in anderen Branchen, eine belastbare Grundlage für eine effektive Regulierung. Die perspektivische Erweiterung auf weitere knappe Ressourcen wie Wasser ermöglicht kontinuierliche Fortschritte bei der ökologischen Nachhaltigkeit.

Ein weiteres Instrument bestünde in der Übertragung des CO2-Zertifikatehandels auf Institutionen des Gesundheitswesens, um das Nachhaltigkeitsdilemma aufzulösen. Dann würden – anders als heute – diejenigen wirtschaftlich belohnt, die einen geringeren CO2-Fußabdruck hinterlassen. Die Logik der Belohnung eines nachhaltigen Ressourceneinsatzes kann über Umweltbilanzierung, Vorgaben für Grenzwerte oder den Zertifikatehandel auf weitere umweltschädliche Emissionen oder Substanzen ausgeweitet werden. Ansätze wie Abwasseruntersuchungen oder Strahlungsmessungen bieten eine objektivierbare Grundlage, um die Umweltverträglichkeit zu erhöhen und externe sowie künftige Kosten früher einzupreisen, damit wirtschaftliches und nachhaltiges Handeln sich nicht widersprechen.

Werden beim Marktzugang neben den ökonomischen und sozialen Aspekten auch ökologische Aspekte berücksichtigt, treten vermehrt umweltverträgliche Produkte, Verfahren und Dienstleistungen in den Gesundheitsmarkt ein. Klare Spielregeln und ein zeitlicher Übergang bieten den Akteuren die notwendige Planbarkeit, um ihr Angebot nachhaltiger zu gestalten.

Doch es geht nicht um noch mehr Vorgaben. Angezeigt ist vielmehr ein Abbau überbordender Regulierung, die einen Wettbewerb um nachhaltige Lösungen behindert. Vielmehr sollten die handelnden Akteure mehr Freiräume bei der Gestaltung nachhaltiger Lösungen erhalten. Bei der Umstellung auf ein nachhaltiges Gesundheitswesen handelt es sich um einen dynamischen Entdeckungsprozess, bei dem künftige Lösungen heute noch nicht bekannt sind und über dezentrale Freiräume der Akteure gefunden werden müssen. Denkbar wäre zum Beispiel die Nachjustierung des § 30 SGB IV, welcher Krankenkassen und ihre Aufsichtsbehörden heute auf eine stringente Auslegung der bestehenden Rechtsvorschriften beschränkt. Das führt bei der Entscheidung über nachhaltige Alternativen regelmäßig zu Konflikten, wenn diese nicht den heute kurzfristigen Wirtschaftlichkeitszielen entsprechen. Aber auch eine übergreifende Kodifizierung von Nachhaltigkeit im SGB als Erweiterung der Zieldimensionen Wirtschaftlichkeit, Qualität und Zugang wäre eine weiter zu durchdenkende Option.

Bei der Umstellung auf ein nachhaltiges Gesundheitswesen handelt es sich um einen dynamischen Entdeckungsprozess.

Vorfinanzierung der Transformationskosten über Anleihen

Bislang spielt die ökologische Nachhaltigkeit der medizinischen Infrastruktur in Deutschland keine Rolle – auch nicht im aktuellen Diskurs über eine neue Krankenhausstruktur im Rahmen der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung(vgl. BMG 2022).

Dabei wäre jetzt genau der richtige Zeitpunkt dafür. Denn beide Diskussionen greifen ineinander: Eine effektive, bedarfsgerechte und patientenorientierte Krankenhausstruktur, die Über- und Fehlversorgung ebenso abbaut wie die Unterversorgung an anderen Stellen, führt zu einem nachhaltigen Umgang mit Ressourcen auf allen Dimensionen und schafft einen Mehrwert an Gesundheit. Doch wie soll dieser umfassende Umbau finanziert werden?

In der aktuellen finanziellen Situation der GKV und unter bestehenden Anreizen ist eine solche Investition seitens der Akteure nicht zu erwarten. Um eine tatsächliche Transformation der Versorgungsstruktur zu ermöglichen, braucht daher eine Vorfinanzierung der Investitionen.

Angesichts der Dringlichkeit des nachhaltigen Strukturwandels sollten die Mittel vielmehr über öffentliche Anleihen bereitgestellt werden. Der Zweck öffentlicher Anleihen besteht in der Finanzierung von öffentlichen Investitionen und Infrastruktur, also zur Deckung eines langfristigen Kapitalbedarfs, der nicht durch laufende Einnahmen gedeckt werden kann oder sollte. Öffentliche Anleihen können von Bund, Ländern, Kommunen und Gebietskörperschaften für einen konkreten Investitionsbedarf ausgegeben werden. Da diese Investitionen der EU-Taxonomie für Environmental Social Governance (ESG) entsprechen, ist von einer entsprechenden Nachfrage am Kapitalmarkt auszugehen.

So könnten – analog zu den erfolgreichen grünen Anleihen – „weiße Anleihen“ von Bund und Ländern ausgegeben werden, welche den nachhaltigen Umbau der Versorgungsinfrastruktur ermöglichen. Die zweckgebundene Mittelverwendung könnte zum Beispiel über einen, beim BAS angesiedelten Transformationsfonds auf Grundlage von Vorgaben des Bundes und der Länder umgesetzt werden (Graalmann et al. 2021a).

Mehr Nachhaltigkeit wagen, mit ordnungspolitischem Gestaltungsanspruch

Deutschland hat in den letzten Jahren kaum messbare Fortschritte hinsichtlich eines nachhaltigen Gesundheitswesens erzielt – weder ökonomisch, sozial noch ökologisch. Zwar haben sich klassische Indikatoren, wie die Lebenserwartung, verbessert. Damit einher geht aber auch eine Zunahme der in Krankheit verbrachten Jahre und damit ein steigender Ressourcenverbrauch in allen Dimensionen.

Dieser Trend wird sich erst umkehren, wenn das ursächliche Nachhaltigkeitsdilemma angegangen wird. Hierfür muss Nachhaltigkeit im Gesundheitssystem systemisch verankert werden. Dies gelingt über einen nachhaltig regulierten Zugang zum Gesundheitsmarkt und die notwendigen Investitionen in eine nachhaltige Infrastruktur, zum Beispiel über Anleihen finanziert.

Was es jetzt braucht, ist ein ordnungspolitischer Gestaltungswille des Gesetzgebers.

Ansätze dafür liegen vor, die methodischen Grundlagen sind auf EU-Ebene gelegt und Best-Practice-Beispiele zeigen, wie es gehen kann. Was es jetzt braucht, ist ein ordnungspolitischer Gestaltungswille des Gesetzgebers. Erst wenn die Akteure nicht mehr gegen ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen handeln müssen, können sie sich für mehr Nachhaltigkeit einsetzen. Sie können der gesellschaftlichen Erwartung gerecht werden und dazu beitragen, das Gesundheitswesen messbar nachhaltiger zu gestalten.

Literatur

BMG – Bundesministerium für Gesundheit (2022) Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung. URL: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/themen/gesundheitswesen/krankenhausreform.html (abgerufen am 01.09.2022)

Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie (2021) Weiterentwicklung 2021. URL: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/998006/1873516/3d3b15cd92d0261e7a0bcdc8f43b7839/2021-03-10-dns-2021-finale-langfassung-nicht-barrierefrei-data.pdf?download=1 (abgerufen am 01.09.2022)

DKG – Deutsche Krankenhausgesellschaft (2022a) Investitionsfinanzierung durch die Länder bleibt ein Trauerspiel. Pressemitteilung vom 17. Januar 2022. URL: https://www.dkgev.de/dkg/presse/details/investitionsfinanzierung-durch-die-laender-bleibt-ein-trauerspiel/#:~:text=%E2%80%9EWenn%20Kliniken%20aus%20wirtschaftlichen%20Gr%C3%BCnden,Trauerspiel%20f%C3%BCr%20die%20station%C3%A4re%20Versorgung (abgerufen am 01.09.2022)
DKG (2022b) Alarmstufe Rot – Krankenhäuser in Gefahr. URL: https://www.dkgev.de/fair/bitte-unterstuetzen-sie-unsere-petition/ (abgerufen am 20.09.2022)

Fraunhofer ISI – Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung ISI (2021) Gesundheitssektor: Ressourcen schonen für mehr Gesundheit, mehr Umweltschutz und weniger Kosten. Presseinformation vom 08.02.2021. URL: https://www.isi.fraunhofer.de/de/presse/2021/presseinfo-02-ressourcenschonung-im-gesundheitssektor.html (abgerufen am 01.09.2022)

Graalmann J, Rödiger T, Schirmer L, van Maanen H (2021a) „Weiße Anleihen“ als alternative Finanzierung für den Strukturwandel im Gesundheitswesen. In: Hildebrandt H, Stuppardt R (Hrsg.) Zukunft Gesundheit – regional, vernetzt, patientenorientiert. medhochzwei Heidelberg

Graalmann J, Rödiger T, Tecklenburg A et al. (2021b) Teilhabe am medizinischen Fortschritt für alle ermöglichen – mit einer passenden Krankenhausstruktur. In: Repschläger U, Schulte C, Osterkamp N (Hrsg.) Gesundheitswesen aktuell 2021. 38–66. BARMER Institut für Gesundheitsforschung

Hauff V (Hrsg.) (1987) Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Eggenkamp Greven

HCWH – Health Care Without Harm (2019) Health care’s climate footprint: the health sector contribution and opportunities for action. Green Paper Number One. Climate-Smart Health Care Series. London

McKinsey Health Institute (2022) Adding years to life and life to years. URL: https://www.mckinsey.com/mhi/our-insights/adding-years-to-life-and-life-to-years (abgerufen am 01.09.2022)