Neustart! TitelbildExperten in eigener Sache –Patientenautonomie und ResilienzTobias Esch

Einleitung: Die neue Rolle des Patienten

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Unser Gesundheitswesen ist in Bewegung gekommen. Corona, Kosten- und Altersentwicklungen, neue Medikamente und Therapieoptionen, digitale Gesundheit: Es herrscht, so könnte man meinen, eine wahre Goldgräber‑, zumindest aber eine Aufbruchsstimmung allerorten. Und im Zentrum der Veränderungen steht meist der Bürger – der Verbraucher und Patient.


So sind heute Reformbemühungen in den Gesundheitssystemen vieler Länder zu beobachten. Fast immer fällt dabei dem Patienten eine neue, „zentrale“ Rolle zu: Er wird vom passiven Empfänger von Gesundheitsleistungen verstärkt zu einem aktiven Teil eines individuell auszuhandelnden und jeweils neu zu gestaltenden Prozesses. Dabei sind die Aktivierung und das Engagement der Patienten – sowie eine „patientenorientierte“ Medizin generell – augenscheinlich zu Zauberworten geworden. Medizinische Standards und allgemeine Empfehlungen zur Messung der Leistung („Performance“) im Gesundheitswesen enthalten heute in der Regel die Patientensicht und -erfahrung an kritischen Punkten (vgl. Pimperl et al. 2021).

Der aktive Patient steht im Zentrum

Patientenorientierung und Patientenzentrierung sind nachweislich mit einer besseren Compliance, höheren Qualität der Koordination oder mit reduzierten Kosten im Behandlungsprozess verbunden (vgl. Pirhonen et al. 2020). Wie sich zeigt, können kompetente Patienten heute einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung insgesamt leisten. Nachweise für die Wirksamkeit von Kompetenzerwerb, Aufklärung und Einbeziehung der Patienten in die Versorgung sind derweil zahlreich vorhanden. Diese Beweise decken jedoch nur einen Teil der antizipierten „Benefits“ ab, da sie im Vergleich zu einer vom Patienten selbst ausgehenden Sicht noch immer systemorientiert – d.h. von außen und auf das Ganze schauend – ausgerichtet sind.

„Kompetente Patienten können einen wesentlichen Beitrag zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung insgesamt leisten.“

Bei sich entwickelnden Modellen und einer exponentiell wachsenden Forschung zu patientenbezogenen Aspekten und Outcomes in der Gesundheitsfürsorge überwiegen nach wie vor Ansätze, die nicht primär die subjektive Patientensicht in das Zentrum stellen. Relevante Definitionen, einmal formuliert von Fachleuten und Wissenschaftlern, werden systematisch kolportiert und vertieft, jedoch mit der immanenten Gefahr von Selbstreferenz und Selbstbestätigung. In der aktuellen wissenschaftlichen Literatur finden sich nur wenige Quellen „aus erster Hand“, d.h. solche, die auf nativen Patientengeschichten beruhen und nicht auf professionellen – objektivierenden – Konzepten über sie und ihre Ansichten. Das Patienten-Narrativ bleibt in der wissenschaftlichen und medizinisch-praktischen Literatur weitgehend ausgespart (Esch 2018).


Aus den eher „paternalistischen“ Ansätzen der etablierten Biomedizin kann jedoch zugleich eine Transformation des Systems in Richtung einer verstärkten Patientenorientierung erwachsen, etwa wenn zunehmend Daten auch aus dialogischen oder kollaborativen Beziehungen mit den Patienten systematisch erfasst und in den Behandlungsprozess an zentraler Stelle eingespeist werden. Ohne Frage: In Bezug auf ihr Gesundheitserleben und die Individualperspektive sind Patienten kompetent – sie sind Experten ihrer selbst (Esch 2020). Um eine solchermaßen postulierte Verschiebung in der Beziehung zwischen Arzt/Therapeuten und Patienten besser verstehen zu können, müssen aber allgemeine Annahmen über Patientenerfahrungen, insbesondere das Konzept einer Patientenaktivierung, weit eingehender erörtert und untersucht werden, als bisher geschehen.


Fragen, die in diesem Zusammenhang untersucht werden sollten, wären etwa:

  • Was definiert einen aktiven Patienten, was ist das Ziel seines Engagements?
  • Was bedeutet „Zentriertheit“ für den Patienten selbst?
  • Soll die geforderte Aktivierung der Patienten bedeuten, dass jene ihre Behandlungspläne, die ärztlichen Ratschläge oder medizinischen Leitlinien besser einhalten?
  • Oder wäre umgekehrt ein engagierter Patient jemand, der sich aktiv um seine persönlichen Bedürfnisse kümmert und diese auch „systematisch“ kommuniziert, und ein patientenzentriertes System somit eines, das sich proaktiv darum bemüht, ebendiese Bedürfnisse zu erfüllen?



Wir sollten wohl auch die Patienten selbst verstärkt und explizit nach ihren Vorstellungen und Bedürfnissen individuell befragen.

Goldstandards fehlen noch

Konzepte zur Patientenbeteiligung haben sich im Gesundheitswesen schnell ausgebreitet. Abgesehen von solchen Themen, die auch einen starken politischen Anspruch auf Verbesserung der Patientenrechte beinhalten – was an sich schon ein begrüßenswerter Zweck ist –, können sie oftmals auch zu besseren medizinischen Ergebnissen führen (Hibbard u. Greene 2013; Bombard et al. 2018). Wie erwähnt, ist das Engagement der Patienten ein zunehmend wichtiger Bestandteil aktueller Strategien zur Reform der Gesundheitsversorgung. Die Stärkung der Patientenperspektive hat sich so zu einer Priorität für Gesundheitsorganisationen und politische Entscheidungsträger weltweit entwickelt, wenn es etwa um eine Verbesserung der Versorgungsqualität geht. Zwar wurden der Patient und seine Aktivierung als wichtige Faktoren auch für die Eindämmung von Kosten identifiziert, aber mittlerweile es geht vielmehr um eine tiefgreifende Rollenverschiebung – und letztlich einen Kulturwandel –, zumindest aber um eine Erweiterung des gängigen Paradigmas (Brinkhaus u. Esch 2021). Den meisten Gesundheitsberufen fehlt noch immer ein gemeinsames Verständnis oder ein operationalisierbarer Rahmen der theoretischen Grundlagen im Kontext von Selbsthilfe, Aktivierung, Kompetenzvermittlung und Patientenbeteiligung (Werdecker u. Esch 2021).


Das Engagement der Patienten ist ein komplexes Konstrukt. Ein Teil dieser Komplexität ist, wie bei Problemen im Kontext der geforderten Patientenorientierung ebenfalls deutlich wird, auf das Fehlen eines Goldstandards für die Messung zurückzuführen – von allgemein anerkannten sowie überprüfbaren Definitionen und Hypothesen einmal ganz abgesehen. Seitens der Gesundheitsberufe ist eine Aktivierung der Patienten wesentlich durch das Zutrauen gekennzeichnet, die Patienten eben dafür befähigen zu können, sich aktiv in die eigene Gesundheitsfürsorge einzubringen. Dieses Zutrauen basiert nicht auf Wissen und Evidenz allein, sondern ist zugleich Ausdruck einer Haltung.

Patientenautonomie: Selbstfürsorge und Resilienz

Vorbehalte gegenüber einer „Alternativmedizin“ oder einer generellen Stärkung der Selbstheilungs- und Selbstfürsorgekompetenz führen immer wieder zu Kompetenzgerangel und Missverständnissen. Dabei ist ein aktivierter und beteiligter Patient keinesfalls einer, der sich außerhalb einer „Schulmedizin“ bewegt – vielmehr waren Selbsthilfefähigkeit und Gesundheitskompetenz seit jeher immanenter Bestandteil einer guten, ganzheitlich und an Ressourcen orientierten Medizin gewesen (Esch 2014; Esch u. Brinkhaus 2021). Dank einer zunehmenden Ausrichtung an den Patientenbedürfnissen lernen die Gesundheitsberufe nun wieder vermehrt, nicht zu viel Energien in „Grabenkämpfen“ entlang künstlicher Trennungs- und Abgrenzungslinien zu verschwenden, sondern ihr eigenes Engagement primär dem Patienten zugutekommen zu lassen – auf dem Boden von wissenschaftlicher Evidenz und rigider Forschung (Werdecker u. Esch 2021).

Patienten nach ihren persönlichen Erfahrungen und Meinungen „aus erster Hand“ zu fragen, ist ein wertvoller erster Schritt. Aber es erfordert weiterhin, dass Fachleute Wege finden, um solche Gespräche in der täglichen Praxis effektiv zu ermöglichen und zu verstehen, was der vom Patienten generierte Inhalt genau bedeutet. Zur Steuerung und Ermöglichung etwa einer Änderung des Lebensstils oder zur effektiven Beteiligung der Patienten, z.B. bei Aktivitäten der Selbstfürsorge, ist es erforderlich, auch auf professionelle Strategien rückgreifen zu können. Solche Strategien basieren heute u.a. auf Erkenntnissen der Neurowissenschaften oder der Psychologie, auch um Motivationen und Verhaltensweisen zu beeinflussen und etablierte Gesundheitsförderungsstrategien anzustoßen – und tatsächlich umzusetzen. „Motivational Interviewing“, „Shared Decision Making“, „Kleinman Questions“, „AskMe3“ oder auch „OpenNotes“ (die Idee, dass Patienten vollen Zugang zu allen Informationen über ihren „Fall“ bekommen und dass diese vollständig transparente Kommunikation auch die ärztliche Dokumentation mit einschließt): Es gibt inzwischen viele interessante Ansätze zur Professionalisierung der Arzt‑/Therapeuten-Patienten-Kommunikation (vgl. Kleinman et al. 1978; Esch et al. 2016; Esch 2021; Härter u. Dirmaier 2021).

Univ.-Prof. Dr. med. Tobias Esch

Univ.-Prof. Dr. med. Tobias Esch

Tobias Esch, Facharzt für Allgemeinmedizin, Arzt für Naturheilverfahren, Neuro- und Gesundheitswissenschaftler sowie Experte für Mind-Body-Medizin. An der Universität Witten/Herdecke Institutsleiter und Lehrstuhlinhaber für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung sowie Gründer der dortigen Universitätsambulanz – einem deutschlandweit einzigartigen Pilotprojekt zur Implementierung einer Integrativen Allgemeinmedizin und Naturheilkunde in der Regelversorgung.

Diesen Ansätzen ist gemein, dass sie letztlich zu einer erhöhten Patientenbeteiligung führen, einer Aufwertung und Veränderung der Patientenrolle in Richtung einer mehr partnerschaftlichen Interaktion, aber auch eine Verlagerung von Verantwortung und Kompetenzen von den Gesundheitsberufen zum Patienten selbst. Dieses stellt keinen kleinen Eingriff in etablierte, lange gewachsene und erprobte Strukturen im Gesundheitswesen dar.

„Patienten nach ihren persönlichen Erfahrungen und Meinungen „aus erster Hand“ zu fragen, ist ein wertvoller erster Schritt.“

Der sich sichtbar vollziehende Kulturwandel im Rahmen eines solchen „Neustarts“ muss wissenschaftlich fundiert begleitet und genauestens protokolliert werden, auch um sich ergebende Steuerungsoptionen zukünftig sinnvoll und effektiv nutzen zu können. Und es müssen neue Strukturen – insbesondere in der Primärversorgung – geschaffen werden, die neben dem medizinischen Behandlungsmanagement auch der Fähigkeit zu Selbsthilfe und Selbstwirksamkeit (s. Abb. 1) und ihrer effektiven Stärkung mehr Raum geben.

Abb. 1 Die drei Aspekte eines modernen Gesundheitswesens bzw. einer ressourcenorientierten Medizin (in Anlehnung an Herbert Benson [Esch 2017])

Fazit und Ausblick

Unter der Voraussetzung einer bestmöglichen medizinischen Behandlung sind auch Ressourcen für eine gezielte Patientenaktivierung und für die Verbesserung seiner individuellen Gesundheitskompetenz und Resilienz vorzuhalten (s. Abb. 2). Dazu gehört genauso, dass künftige ambulante Einrichtungen der Primärversorgung vermehrt teambasiert, multiprofessionell und interdisziplinär bzw. integrativ aufgestellt sein werden (Esch u. Brinkhaus 2021; Fischer 2021).

Abb. 2   Konzept einer integrativen Primärversorgung: theoretisches Zusammenspiel der drei Ebenen

Die Gesundheitsförderung und Patientenautonomie werden in diesem Konzert einen zentralen Platz haben. So praktizieren wir es auch in unserer Wittener Universitätsambulanz – als erste derartige Einrichtung in Deutschland. Ähnliche Modelle werden in den kommenden Jahren einen neuen Standard einer patientenzentrierten, insbesondere ambulanten Medizin setzen.

Literatur

Bombard Y, Baker GR, Orlando E, Fancott C, Bhatia P, Casalino S, Onate K, Denis JL, Pomey MP (2018) Engaging patients to improve quality of care: A systematic review. Implement. Sci. 13, 98

Brinkhaus B, Esch T (2021) Integrative Medizin und Gesundheit – Konstrukt einer modernen Medizin. In: Brinkhaus B, Esch T (Hrsg.) Integrative Medizin und Gesundheit. 3–15. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin

Esch T (2014) Selbstregulation: Selbstheilung als Teil der Medizin. Ein medizinisch-kultureller Blick auf die moderne Autoregulationsforschung. Dtsch Arztebl 111, A2214–2220

Esch T (2017) Die Neurobiologie des Glücks – Wie die Positive Psychologie die Medizin verändert. 3. Aufl. Thieme Stuttgart

Esch T (2018) OpenNotes, patient narratives, and their transformative effects on patient-centered care. NEJM Catalyst 10, 4

Esch T (2020) Der Nutzen von Selbstheilungspotenzialen in der professionellen Gesundheitsfürsorge am Beispiel der Mind-Body-Medizin. Bundesgesundheitsblatt 63, 577–585