Neustart! TitelbildCommunity Health Nursing –eine zentrale Funktion
in der Primärversorgung
Franz Wagner

Ausgangslage und Handlungsbedarfe

Angesichts der demografischen und epidemiologischen Entwicklungen steht die Gesundheitsversorgung in Deutschland vor großen Herausforderungen. Der Bevölkerungsanteil älterer und alleinlebender Menschen nimmt ebenso zu wie die Zahl chronischer Erkrankungen, gleichzeitig kehren Infektionskrankheiten zurück oder erreichen ganz neue Dimensionen. Dabei gibt es einen engen Zusammenhang zwischen niedrigem sozialem Status und schlechter Gesundheit. Prävention und Gesundheitsförderung sind in Deutschland unterentwickelt.


Aber auch Veränderungen der Versorgungsstrukturen müssen bewältigt werden: Zum einen gibt es ein enormes Verteilungsproblem bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten. Zum anderen haben wir im internationalen Vergleich eine enorm hohe Anzahl von Krankenhausbetten und nicht zuletzt wegen ökonomischer Fehlanreize eine außergewöhnlich hohe Anzahl von Operationen (zum Beispiel in der Orthopädie). Der Gesetzgeber hat es bisher nicht geschafft, diesen Problemen wirksam zu begegnen. Das deutsche Gesundheitswesen ist zudem gekennzeichnet durch eine hohe Fragmentierung, die einen großen Teil der Versicherten überfordert. Verstärkt wird das Problem durch eine gering ausgeprägte Gesundheitskompetenz (Health Literacy) (Hurrelmann 2020). Aus all diesen Gründen erhalten Betroffene nicht immer eine angemessene Versorgung.

Ein niedrigschwelliger Zugang zu den Leistungen des Gesundheitswesens ist entscheidend für die Inanspruchnahme und Bedarfsgerechtigkeit eines Systems (SVR 2014).

Vor diesem Hintergrund gilt es, neue, passgenaue Versorgungsangebote zu entwickeln. Angesichts der nebeneinander bestehenden Unter‑, Über- und Fehlversorgung (SVR 2014) gibt es in Deutschland seit Längerem Debatten zur Stärkung der Primärversorgung. Sie stellt im ambulanten Geschehen die zentrale Eintrittspforte ins Gesundheitswesen dar. Laut Sachverständigenrat (SVR 2014) ist ein niedrigschwelliger Zugang zu den Leistungen des Gesundheitswesens entscheidend für die Inanspruchnahme und Bedarfsgerechtigkeit eines Systems. Das ist besonders für vulnerable Gruppen (dazu gehören auch ältere Menschen) und für Bevölkerungsgruppen in strukturschwachen Regionen bedeutsam. Die Primärversorgung muss auf dem Land, aber auch in städtisch geprägten benachteiligten Gebieten effizient und bedarfsgerecht gesichert werden. Gute Erreichbarkeit, integrierte Versorgungsangebote und ein breites Versorgungsspektrum bei hoher Qualität sind zentrale Ziele. Dadurch wird beispielsweise auch ein Verbleib im häuslichen Umfeld bei beginnendem Pflege- und Unterstützungsbedarf ermöglicht. Die Lösung all dieser Herausforderungen würde erheblich zu mehr Gesundheit, Lebensqualität und Zufriedenheit beitragen. Sie hätte auch wirtschaftliche Vorteile durch vermiedene Krankheits- und Pflegekosten.

Dr. h.c. Franz Wagner, M.Sc.N.

Franz Wagner ist Gesundheits- und Krankenpfleger mit Spezialisierung Intensivpflege, Lehrer für Pflegeberufe. Nach seiner Berufspaxis in der psychiatrischen Pflege, Intensivpflege und Pflegebildung studierte er Pflege- und Gesundheitswissenschaften in Edinburgh. Seit mehr als 20 Jahren ist er haupt- und ehrenamtlich berufspolitisch aktiv, u.a. als Bundesgeschäftsführer des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (1991–2021), Präsident des Deutschen Pflegerates (2017–2021) oder im Vorstand des International Council of Nurses (2001–2009).

Community Health Nursing

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Community Health Nursing ist international schon lange etabliert (zum Beispiel in Finnland oder Kanada). Community Health Nursing ist stark geprägt von interdisziplinärer Zusammenarbeit mit anderen Gesundheits- und Sozialberufen und über Sektorengrenzen hinweg.
Spezialisierte Pflegefachpersonen arbeiten in der primären Gesundheitsversorgung. Sie sollen Gesundheitsbedarfe erkennen und Lücken in der Versorgung schließen. Die Community Health Nurses (CHN) arbeiten in kommunalen Gesundheitszentren, im Quartiersmanagement, bei ambulanten Pflegediensten, in Arztpraxen oder im Öffentlichen Gesundheitsdienst. Gerade auch an den Schnittstellen der Sektoren leisten sie für die Kontinuität der Versorgung einen wichtigen Beitrag.
Ihre Aufgaben hängen stark davon ab, in welchem Setting sie eingesetzt werden, welche medizinisch-pflegerischen Bedarfslagen in der Population vorherrschen, welche Klientengruppen die Versorgungseinrichtung nutzen, welche Interventionsstrategien vorrangig angewendet werden und welche Gesundheitsprobleme anzutreffen sind. Dabei sind die Aufgaben

  • krankheitsabhängig: z.B. chronische Krankheiten (Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus oder psychische Gesundheitsprobleme),
  • bevölkerungsgruppenabhängig: Ausrichtung auf eine bestimmte Gruppe (z.B. ältere Menschen, Kinder, Geflüchtete, Alleinlebende, Wohnungslose etc.) und
  • settingbezogen: im Quartier, im Pflegeheim, in der Schule etc.

Im Folgenden werden die Ansiedlung, die genauen Aufgaben, die Rollen und Kernkompetenzen sowie die Qualifizierung von Community Health Nurses knapp geschildert (s. auch Abb. 1).

Ansiedlung der Community Health Nurses

Abb. 1 Handlungsfeld von Community Health Nursing im Primärversorgungszentrum im Kontext von weiteren Akteuren (© DBfK 2018)

  • Gesundheitszentren: International bewährt haben sich lokale Gesundheitszentren, die in multiprofessioneller Zusammenarbeit pflegerische, präventive, medizinische, psychosoziale und rehabilitative Leistungen unter einem Dach in einer integrierten Versorgungsform anbieten. Community Health Nurses (CHN) als speziell qualifizierte Pflegefachpersonen sind in diesen Zentren in einem definierten Handlungsfeld tätig und übernehmen oft zentrale Koordinations- und Steuerungsfunktion (Schaeffer 2017).
  • Quartier/Stadtteil: Hier stehen Bedarfe von vulnerablen Gruppen im Vordergrund. CHN bieten einen niederschwelligen Zugang zu Gesundheitsförderung, Prävention und Beratung gerade für Menschen, die sonst schwer zu erreichen sind oder schwer Zugang zu guter Gesundheitsversorgung finden. Es besteht insbesondere eine Schnittmenge mit den Auswirkungen sozialer Faktoren auf die Gesundheit.
  • Öffentlicher Gesundheitsdienst: In einem in seinen Aufgaben reformierten Öffentlichen Gesundheitsdienst könnten CHN zu einer Perspektivenerweiterung beitragen. Im Fokus stünden hierbei größere Bevölkerungsgruppen. So können CHN zum Beispiel in einer Pandemie geeignete Strategien für die Impfung mitentwickeln.

Aufgaben der Community Health Nurses

  • Primärversorgung und Sicherung der Versorgungskontinuität
  • Überprüfung des Gesundheitszustandes (Health Assessment)
  • Erhebung von Befunden und Kontrolluntersuchungen
  • Gesundheitsförderung und Prävention
  • Schulung und Beratung
  • Anleitung zum Selbstmanagement
  • Steuerung, Koordination, Vernetzung
  • Management, Leitung
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Rolle der Community Health Nurses

„In der Primärversorgung ist sie Untersucherin und Behandlerin. Hinzu kommt, wie im Case Management, die Rolle des Brokers. Er wird auch als Gesundheitskümmerer, Berater zu Krankheit und Gesundheit, Vermittler, Lotse, Fürsprecher, Untersucher, Vernetzer, Motivator etc. beschrieben.“ (DBfK 2018)

Kernkompetenzen der Community Health Nurses

CHN sind in der Lage, neue komplexe Aufgaben und Problemstellungen zu bearbeiten. Sie übernehmen die eigenverantwortliche Steuerung von Prozessen und die eigenverantwortliche Leitung von Gruppen und Organisationen im Rahmen von komplexen Aufgabenstellungen. Sie vertreten ihre Arbeitsergebnisse im interdisziplinären Team und erschließen eigenständiges Wissen zur Bewältigung neuer anwendungsorientierter Aufgaben.

Qualifizierung der Community Health Nurses

Nach internationalem Vorbild, aber auch angesichts der Anforderungen des Berufsbilds erwerben CHN ihre Kompetenzen in einem Masterstudiengang aufbauend auf einer pflegerischen Berufsqualifikation. Beim Community Health Nursing handelt es sich um eine fachliche Ausprägung des Advanced Practice Nursing (erweiterte Pflegepraxis). Damit ist die sich entwickelnde neue Rolle CHN auch ein Beitrag dazu, den Pflegeberuf durch eine weitere Karriereoption in der direkten Versorgung von Klienten attraktiver zu machen und gerade berufserfahrene Pflegefachpersonen im Beruf zu halten.

Community Health Nurses bringen Kompetenzen und Perspektiven ein, die bisher vernachlässigte Bedarfslagen identifizieren und kompensieren helfen.

Weitere Entwicklung

Die Sicherung der Gesundheitsversorgung wird in den kommenden Jahren erheblich unter Druck geraten. Ein Gradmesser für den Erfolg wird sein, wie die Gesundheitsversorgung an die gewandelten gesundheitlichen Bedarfslagen angepasst werden kann. Und wie dadurch die Gesundheitschancen für alle Menschen – quer über die Regionen und über ihre soziale Situation hinaus – gesichert bzw. verbessert werden kann. Entscheidend ist hierbei der niederschwellige Zugang zu den Leistungen der Versorgungssysteme. Denn vor allem in den strukturschwachen Gebieten wird dies zunehmend eine Herausforderung werden.


Das bisherige Verhältnis zwischen Medizin und Pflege muss sich verändern. Es braucht eine neue Justierung von Zuständigkeiten und Kompetenzen. Bisher wird diese Diskussion eher berufsständisch geführt. Versorgungsbedürfnisse und vorhandene Kompetenzen spielen eine nachgeordnete Rolle. Dabei muss der Orientierungspunkt für die Gestaltung der Versorgung und der Zuständigkeiten allein der Versorgungsbedarf der Versicherten beziehungsweise die Kompetenz sowie Leistungsfähigkeit der Akteure sein. Mehrere WHO-Programme haben darauf hingewirkt, das Prinzip „Gesundheit für alle“ zu verwirklichen. Das hat in verschiedensten Ausprägungen politischen Einfluss gehabt, aber an den Grundstrukturen der Versorgung in Deutschland nicht viel verändert. Die Einführung von lokalen Gesundheitszentren unter Leitung der Kommunen bietet eine große Chance, die Gesundheitsversorgung zu verbessern. Ärzte könnten von Aufgaben entlastet werden und insbesondere die CHN bringen Kompetenzen und Perspektiven ein, die bisher vernachlässigte Bedarfslagen identifizieren und kompensieren helfen. Das Leistungsspektrum der Primärversorgung würde erweitert werden. Dies hat insbesondere im Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen und Pflegebedürftigkeit einen hohen Stellenwert. Hier kann u.a. das Selbstmanagement durch Beratung, Information, Anleitung und Patientenschulung gestärkt werden.


Die Etablierung von Community Health Nurses ist ein Prozess, der sicher einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Gerade der wachsende Kompetenzzuwachs der Kommunen im Gesundheitsbereich, welche hier im Rahmen ihrer Aufgaben zur Sicherung der Daseinsvorsorge zuständig sind, bietet eine Chance, die bisher unbekannte Rolle der CHN einzuführen. Aber auch der öffentliche Gesundheitsdienst (ÖGD), der nach der Pandemie sicherlich eine Reform seiner Aufgaben und Ressourcen erfahren wird, bietet hier einen Ansatz zur Verbesserung der Versorgung. Und auch beim ÖGD kann die CHN einen entscheidenden Beitrag für eine bessere Versorgung leisten.

Ausblick

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Community Health Nursing kann einen bedeutsamen Beitrag zur Bewältigung der Herausforderungen in der Gesundheitsversorgung bieten. Es gibt noch Entwicklungs- und Regelungsbedarf unter sozial- und berufsrechtlichen Aspekten. Dies wird ausführlich im Gutachten von Igl und Burgi (Igl u. Burgi 2021) dargestellt. Im Gutachten wird ausgeführt, wie die Community Health Nurse in bestehendem Recht etabliert werden kann. Es wird aber auch dargestellt, wie durch eine neue Gesetzgebung das Potenzial noch weitaus stärker genutzt werden könnte.


Mehrere Hochschulen bieten heute Masterstudiengänge im Bereich Community Health/Community Health Nursing an (an den Standorten Bremen, Dresden, München, Vallendar, Witten). Drei dieser Hochschulen (Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar, Private Universität Witten-Herdecke, Stiftungsfachhochschule München) unterstützt und begleitet die Agnes-Karll-Gesellschaft im DBfK in einem von der Robert Bosch Stiftung geförderten Projekt. Neben einem Förderprogramm für die Studierenden geht es vor allem um die Weiterentwicklung bzw. Ausdifferenzierung und Koordinierung des Konzepts Community Health Nursing für Deutschland.

Literatur

Burgi M, Igl G (2021) Rechtliche Voraussetzungen und Möglichkeiten der Etablierung von Community Health Nursing (CHN) in Deutschland. Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden

DBfK (2018) Community Health Nursing in Deutschland. Hrsg. von der Agnes-Karll-Gesellschaft für Gesundheitsbildung und Pflegeforschung mbH, vertreten durch den Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe – DBfK Bundesverband e.V. Berlin

Hurrelmann K, Klinger J, Schaeffer D (2020) Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland: Vergleich der Erhebungen 2014 und 2020. Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK), Universität Bielefeld

Schaeffer D (2017) Advanced Nursing Practice – Erweiterte Rollen und Aufgaben der Pflege in der Primärversorgung in Ontario/Kanada. Pflege & Gesellschaft 1, 3–4

SVR, Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2014) Bedarfsgerechte Versorgung − Perspektiven für ländliche Regionen und ausgewählte Leistungsbereiche. URL: https://www.svr-gesundheit.de/gutachten/gutachten-2014/ (abgerufen am 17.08.2021)