Deutschland 2030: Digitale Anwendungen sind integraler Bestandteil der Gesundheitsversorgung. Die Bedürfnisse der Beteiligten, vom Patienten bis zum Arzt, stehen im Mittelpunkt des Systems. Ob Gesundheitscheck oder Betreuung von chronisch Kranken – für alle Anwendungsfälle ist ein klar messbarer Nutzen definiert, an dem sich die Vergütung orientiert. Klingt utopisch? Aus heutiger Sicht schon. Doch der Weg dorthin zeichnet sich bereits ab.
Gesundheitswesen liegt bei Digitalisierung zurück
Zunächst ein Blick zurück: In den vergangenen Jahren haben alle großen Gesundheitssysteme weltweit erhebliche Summen in eHealth investiert. Gemeint sind damit Investitionen in digitale Anwendungen für Ärzte und Pflegepersonal, um effizientere, papierlose Prozesse oder einfachere Dokumentation zu ermöglichen. Das Problem: Die Veränderungsbereitschaft blieb insgesamt eher gering, da diejenigen, die die Anwendungen einsetzen sollten, nicht immer selbst einen Nutzen davon hatten. Ein verbesserter Datenaustausch beispielsweise hilft zwar, Doppeluntersuchungen zu vermeiden. Doch davon profitiert primär das Gesamtsystem, weniger der einzelne Arzt. Viele IT-Programme, egal ob das National Programme for IT im National Health Service (NHS) Großbritanniens oder die gematik in Deutschland, haben letztlich nicht den erhofften Nutzen gebracht.
Im Gegensatz zu eHealth ist im Bereich Digital Health – digitale Anwendungen für Patienten – lange Zeit recht wenig passiert. In Deutschland kommunizieren laut PraxisBarometer Digitalisierung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung immer noch 69% der Arztpraxen mehrheitlich über Papier mit ihren Patienten (Albrecht et al. 2020). Services wie die Rezepterneuerung oder Online-Terminvereinbarung waren nur in 15% der Praxen verfügbar. Und nur etwas mehr als jede zehnte Praxis war in der Lage, Patienten auf elektronischem Weg an Behandlungs- oder Vorsorgetermine zu erinnern oder Medikationspläne in digitaler Form bereitzustellen.
Wie groß die Digitalisierungslücke im Gesundheitswesen insgesamt ist, zeigt ein Vergleich mit anderen Branchen, wie dem Einzelhandel oder der Tourismusindustrie. In diesen beiden durch hohen Wettbewerb gekennzeichneten Branchen liegt der Digitalisierungsquotient weltweit gesehen bei 42 bzw. 39, im Gesundheitswesen hingegen lediglich bei 28 (s. Abb. 1). Der Quotient misst den Stand der Digitalisierung von Unternehmen, Organisationen und Branchen anhand der Kriterien Strategie, Organisation sowie Fähigkeiten und Technologie.
Abb. 1 Das Gesundheitswesen hinkt in der Digitalisierung hinterher (Digitaler Quotient von McKinsey – Bewertung von Unternehmen in Strategie, Organisation, Technologie und Fähigkeiten)
Nachfrage, Angebot und Nutzen sind gegeben
Wichtige Voraussetzungen für ein Ökosystem im deutschen Gesundheitswesen liegen schon heute vor: Die Nachfrage ist da. Immer mehr Patienten möchten digitale Anwendungen nutzen – beispielsweise für die Vereinbarung eines Arzttermins oder einen Symptomcheck. Laut einer Bitkom-Umfrage im Mai 2021 fordern 71% der Bundesbürger mehr Tempo beim Ausbau digitaler Angebote in der Medizin (2020: 65%) (Bitkom 2021). Gerade im Zuge der COVID-19-Pandemie ist das Vertrauen in digitale Lösungen deutlich gestiegen. So kamen laut dem McKinsey eHealth Monitor im ersten Quartal 2020 Gesundheits-Apps und -services auf fast zwei Mio. Downloads (McKinsey 2021). Das ist eine Verdopplung gegenüber dem Vorjahr. Nach kurzzeitigem Rückgang stieg die Anzahl der Downloads im zweiten Quartal 2021 sogar auf 2,4 Mio. an.
Der Nachfrage steht ein großes Angebot an digitalen Gesundheitsanwendungen gegenüber – allein im Google Play Store gibt es heute über 50.000 entsprechende Apps, die sich mit einem Klick kostenlos oder für wenig Geld herunterladen lassen. In verschiedenen Ländern wurden regulatorische Änderungen beschlossen, um solche Services „verschreibbar“ oder für die Leistungserbringer deutlich attraktiver zu machen. Dazu gehört beispielsweise, die Vergütung auf dem Niveau von Offline-Behandlungen zu halten oder Restriktionen hinsichtlich der Anzahl der abrechenbaren Leistungen abzubauen. Hier hat Deutschland eine wirkliche Vorreiterrolle mit der Einführung der DiGAs übernommen. Nach einer Zulassung durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) können diese Apps von Ärzten verschrieben und in der Folge von Krankenkassen erstattet werden. Seit der Einführung des DiGA-Verzeichnisses wurden bis Mai 2021 insgesamt 72 digitale Gesundheitsanwendungen im BfArM beantragt.
Nicht zuletzt haben zahlreiche Untersuchungen den Nutzen der Digitalisierung für das Gesundheitssystem belegt. Allein in Deutschland beträgt das Digitalisierungspotenzial rund 10% der gesamten Gesundheitsausgaben. Das entspricht ca. 34 Mrd. €. Gut zwei Drittel davon entfallen auf Anwendungen rund um den Arzt, ein Drittel auf Anwendungen rund um den Patienten (s. Abb. 2). Wichtigste digitale technische Voraussetzungen sind die elektronische Patientenakte und das elektronische Rezept – sie bilden die Grundlage für die Erschließung von 75% des Gesamtpotenzials.
Abb. 2 Wertschöpfungspools durch digitale Gesundheitsökosysteme in Deutschland und beispielhafte Akteure, in Mrd. EUR. 34 Mrd. EUR können durch digitale Gesundheitsökosysteme in Deutschland erschlossen werden – mit ePA und e-Rezept als Basis (McKinsey-Analyse auf Basis von ca. 500 wissenschaftlichen Publikationen für Deutschland angepasst, 2019 – Zahlen können durch Rundung abweichen) (Hehner et al. 2018)
Gerade bei chronischen Erkrankungen – deren Anzahl und Kosten permanent steigen – ist der Nutzen digitaler Anwendungen hoch
Ein erheblicher Anteil der Behandlungsergebnisse hängt von Einflussfaktoren ab, die nicht nur genetisch bedingt, sondern auch sozial und verhaltensbedingt sind: Raucht oder trinkt der Patient, wie ernährt oder bewegt er sich, wie gut ist sein Schlaf (s. Abb. 3)? Werden mit digitalen Anwendungen Daten auch außerhalb der Regelversorgung erfasst, lässt sich der Einfluss dieser Faktoren in der Forschung besser berücksichtigen und damit letztlich der Behandlungserfolg erhöhen.
Für ein funktionierendes Ökosystem fehlt die Vernetzungsbasis
Trotzdem existiert ein solches Ökosystem zumindest im deutschen Gesundheitswesen bis heute nicht. Warum? Derzeit gibt es viele Insellösungen, die häufig nicht aus der Sicht der Patienten gedacht sind und dann auch oft nur ein singuläres Problem lösen. Hakt es aber schon an den Grundlagen, werden Ökosystemansätze die erhoffte Wirkung verfehlen. Ein funktionierendes Ökosystem begleitet Patienten durchgehend auf ihrem Weg durch das gesamte Gesundheitssystem – vom Checken der ersten Symptome über die digitale und/oder persönliche Behandlung durch den Arzt bis hin zur Abrechnung mit der Krankenkasse (s. Abb. 4).
Abb. 4 Gesundheitsökosysteme sind nahtlose Kundenreisen zwischen der Online- und Offline-Welt
Orchestrator dringend gesucht
Wer bietet sich für die Rolle des Orchestrators an? Ein Blick auf Länder, in denen es Gesundheitsökosysteme in ersten Ansätzen bereits gibt, zeigt verschiedene Möglichkeiten auf. Infrage kommen zunächst Versicherer. Ihre Motivation: die Kosten zu reduzieren und Kunden zu gewinnen, die tendenziell einen gesunden Lifestyle pflegen. Der in Südafrika ansässige Versicherer Discovery etwa hat schon vor mehr als 20 Jahren mit dem Aufbau eines Gesundheitsökosystems begonnen. Mit seinem digitalen Vitality-Programm motiviert er Kunden zu einem gesünderen Leben – indem er Gesundheits- und Wellnessdaten auswertet, den Kunden Zugang zu einem Netzwerk relevanter Dienstleister bietet und finanzielle Anreize setzt. Auf diese Weise konnten die Kosten – auch unter Nutzung von Selektionseffekten – bis zu 14% reduziert werden. Ein anderes Beispiel ist das Ökosystem Pulse von Prudential, welches in mehreren Ländern Asiens digitale Gesundheitsservices anbietet. 70% der Nutzer sind noch keine Prudential-Kunden, können es aber per Mausklick werden. Fast zwei Mio. Verträge sind so allein im ersten Jahr zustande gekommen – mit gesundheitsbewussten, digital orientierten und damit attraktiven Kunden. Ein letztes, noch neueres Beispiel: In der Schweiz ist im August 2021 die Gesundheitsplattform WELL an den Start gegangen. Die Beteiligten sind die Versicherer CSS und Visana, der Telemedizinanbieter Medi24 sowie der Arzneimittel- und Technologieanbieter Zur Rose. Sie können zusammen zwei Mio. Nutzer – ein Viertel der Schweizer Bevölkerung – über ihre bisherigen Kundenbeziehungen erreichen.
Auch für Leistungserbringer kann es sich lohnen, eigene Ökosysteme aufzubauen, um mehr Patienten zu gewinnen. So hat die Krankenhauskette Apollo Hospitals in Indien die digitale Plattform Apollo 24|7 mit Services insbesondere rund um die Telemedizin mit dem Ziel aufgebaut, eine größere Anzahl von Patienten zu versorgen. Die Online-Apotheke Zur Rose hat den größten Telemedizinanbieter in Deutschland – die TeleClinic – gekauft, um Patienten einen größeren Mehrwert als nur die reine Online-Apotheke zu bieten, nämlich die ambitionierte Vision „to create a world where everyone can manage their health with one click“ und ein Gesundheitsökosystem in mehreren Ländern Europas aufzubauen.
Und natürlich könnten auch Technologieanbieter wie Google oder Amazon ein Interesse am Aufbau digitaler Gesundheitssysteme haben. Zwar fehlt die Nähe zum traditionellen Gesundheitswesen und viele Patienten dürften den großen Tech-Spielern gerade beim Thema Gesundheit nicht unbedingt ihr Vertrauen schenken. Doch die Technologieanbieter sind auf der Suche nach neuen Wertquellen. So hat Amazon z.B. im Jahr 2018 die amerikanische Versandapotheke PillPack gekauft, um ihren Kunden die Lieferung verschreibungspflichtiger Medikamente nach Hause zu ermöglichen. Apple bietet mit HealthKit einen zentralen Ort zur Datenspeicherung von Gesundheits- und Fitnessdaten an, auf den HealthKit-kompatible Applikationen nach Zustimmung durch den Nutzer direkten Zugriff bekommen, um eine personalisierte Kundenreise anbieten zu können. Punkten können die Technologieanbieter vor allem mit hoher Tech-Kompetenz, ihrem ständig wachsenden Datenschatz und ihrem permanenten digitalen Zugang zum Alltagsleben vieler Menschen mit hoher Convenience.
Wer den „Kontrollpunkt“ Plattform in einem künftigen Gesundheitsökosystem besetzen wird, ist noch nicht abschließend entschieden.
Wer die zentrale Rolle in einem künftigen Gesundheitsökosystem übernehmen und damit den „Kontrollpunkt“ Plattform besetzen wird, ist noch nicht abschließend entschieden. Von den Vertretern des Gesundheitswesens, die McKinsey 2021 befragt hat, nennen 62% die großen Tech-Anbieter als wichtigste Treiber die Entwicklung. Aber auch Leistungserbringer (50%) und Start-ups (47%) werden in einer führenden Rolle gesehen (McKinsey 2021). Interessanterweise hat keiner der Akteure sich selbst als treibende Kraft genannt – es zeigt sich, dass viele Spieler die eigene mögliche Rolle eher zu skeptisch sehen.
Mögliche Kandidaten brauchen in jedem Fall eine klare strategische Ausrichtung, verbunden mit der Fähigkeit, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen und mit anderen Akteuren auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Am Ende sollte die Beteiligung an einem Ökosystem für alle Akteure im Gesundheitswesen eine Win-win-Situation sein (s. Abb. 5).
Literatur
Albrecht M, Otten M, Sander M, Temizdemir Ender (2020) PraxisBarometer Digitalisierung 2020. Stand und Perspektiven der Digitalisierung in der vertragsärztlichen und -psychotherapeutischen Versorgung. URL: https://www.kbv.de/media/sp/IGES_KBV_PraxisBarometer_2020.pdf (abgerufen am 30.11.2021)
Biesdorf S, Deetjen U, Kayyali Basel (2021) Digital health ecosystems: Voices of key healthcare leaders. URL: https://www.mckinsey.com/industries/healthcare-systems-and-services/our-insights/digital-health-ecosystems-voices-of-key-healthcare-leaders (abgerufen am 30.11.2021)
Bitkom (2021) Digital Health 2021. URL: https://www.bitkom-research.de/system/files/document/BitkomPK-DigitalHealth21-Charts.pdf (abgerufen am 30.11.2021)
Hehner S, Biesdorf S, Möller M (2018) Digitalisierung im Gesundheitswesen: die 34-Milliarden-Euro-Chance für Deutschland. URL: https://healthcare.mckinsey.com/sites/default/files/Healthcare%20Economic%20Model%20Germany%20-%20Whitepaper%20lang%20[de].pdf (abgerufen am 30.11.2021)
McGovern L (2014)The Relative Contribution of Multiple Determinants to Health. Health Affairs Health Policy Brief. DOI: 10.1377/hpb20140821.404487
McKinsey & Company (2021) eHealth Monitor 2021: Deutschlands Weg in die digitale Gesundheitsversorgung – Status quo und Perspektiven. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin