Resilienz: Ein Konzept
für eine gute Zukunft
in einer Zeit der Krisen
Jens Baas und Dennis Chytrek

Die Autoren

Dr. Jens Baas

Jens Baas ist seit 2012 Vorsitzender des Vorstands der Techniker Krankenkasse (TK). Vor seiner Zeit als Vorstandsvorsitzender war er bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group tätig, zuletzt als Partner und Geschäftsführer. Sein Studium der Humanmedizin absolvierte Jens Baas an der Universität Heidelberg und der University of Minnesota (USA). Er arbeitete anschließend als Arzt in den chirurgischen Universitätskliniken Heidelberg und Münster.

Dennis Chytrek

Dennis Chytrek ist seit 2019 persönlicher Referent des Vorstandsvorsitzenden der Techniker Krankenkasse (TK). Zuvor war er als stellvertretender Pressesprecher und Pressereferent in der Unternehmenskommunikation der TK tätig. Er hat sein Studium der Politik und Rechtswissenschaften in Hamburg und Schweden absolviert. Bevor er zur TK ging, war er unter anderem als freier Journalist und Berater bei einer Unternehmensberatung für Gesundheitskommunikation tätig.

Corona als Weckruf und Chance

Das deutsche Gesundheitssystem gilt als eines der besten der Welt. Aber auch dieses System hat seine Schwächen. Bereits vor der Corona-Pandemie waren viele Mängel bekannt und sind in Wissenschaft und Politik diskutiert worden. Die Pandemie hat die Probleme und Versäumnisse der letzten Jahre nicht nur wie unter einem Brennglas aufgezeigt, sie hat die Verantwortlichen zum Handeln gezwungen. Die Corona-Pandemie wurde so zu einem Stresstest für das gesamte Land – mit dem Gesundheitssystem im Zentrum.

Einige dieser Versäumnisse konnten schnell behoben werden, wie zum Beispiel die telefonische Krankschreibung bei leichten Erkältungssymptomen. Andere haben uns hart getroffen und wahrscheinlich zur Erkrankung vieler Menschen im Gesundheitssystem geführt, wie die unzureichende, beziehungsweise nicht vorhandene, Bevorratung mit Schutzmasken, Handschuhen und Desinfektionsmitteln. Als die Lieferketten durch das globale Ausmaß der Pandemie zusammenbrachen, war eine schnelle Beschaffung „on time“ nicht mehr möglich. An anderen Stellen wurde seitens der Politik übersteuert, zum Beispiel durch die Reisebeschränkungen, die es den Bürgerinnen und Bürger untersagten, in Bundesländer zu reisen, in denen sie nicht ihren Wohnsitz hatten.

Dabei waren potenzielle Gefahr und Risiko einer Pandemie keine unbekannten Größen, sondern im Gegenteil sogar Teil einer vorangegangenen Risikoanalyse für den Bevölkerungsschutz (Bundestag 2013). Nachdem nun die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie beendet wurden und die pandemische Lage in Deutschland beendet ist, stellt sich die Frage, ob es gelingen kann, das Momentum der Stärkung der Resilienz des Gesundheitswesens beizubehalten. An welchen Stellen kann über die Pandemie hinaus für Fortschritt und Weiterentwicklung gesorgt werden und wo sind etwaige Beharrungskräfte so groß, dass das Rad zurückgedreht zu werden droht? Wo müssen bestehende Schwachstellen angegangen werden, damit das System auf ein erneutes Ereignis besser reagieren kann und resilienter gegenüber unvorhergesehenen Ereignissen wird? Das gilt für erwartbare Szenarien wie auch für jene, die aus heutiger Sicht eine niedrige Eintrittswahrscheinlichkeit haben. Der Sachverständigenrat fordert dazu in seinem aktuellen Gutachten, dass das System darauf vorbereitet werden muss, auch in Krisen die hohe Qualität der Versorgung sowie den Schutz von Leben und Gesundheit aufrecht zu erhalten. Dabei soll es in die Lage versetzt werden, verschiedene, ggf. auch mehrere gleichzeitig einwirkende negative Schocks zu bewältigen (SVR 2023, S. 20).

Gefahr und Risiko einer Pandemie waren keineswegs unbekannte Größen.

Um gut auf die nächste Krise vorbereitet zu sein und unser System auf mehr Resilienz ausrichten zu können, muss zunächst analysiert werden, was in der Pandemie gut oder schlecht funktioniert hat und an welchen Stellen wir heute sehen, dass es Verbesserungsbedarf gibt. Das gilt vor allem für die Digitalisierung im Gesundheitswesen, die Finanzierung des Systems, die Krankenhauslandschaft sowie die Abhängigkeit von globalen Lieferketten. Zum Schluss ist es ebenso sinnvoll, einen Blick auf die nächste Krise zu werfen, die sich bereits am Horizont abzeichnet und auf die das System ebenfalls nicht besonders gut vorbereitet ist: den globalen Klimawandel.

Digitalisierung konsequent vorantreiben

Dass bei der Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystem Reformbedarf besteht, kann mittlerweile auch der stärkste Kritiker nicht mehr verneinen. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass viele Möglichkeiten ungenutzt bleiben, Informationen (Daten) zu gewinnen und zu verarbeiten. Daraus entstehen Nachteile. Eines der größten Probleme: Entweder liegen Informationen gar nicht vor, obwohl sie einfach zu erheben wären, oder sie können nicht geteilt werden, weil mit veralteter Technik gearbeitet wird. Oft steht auch ein Bruch des Mediums im Wege, wenn zum Beispiel Meldungen zunächst digital erfasst werden, diese dann aber ausgedruckt, gefaxt und beim Empfänger händisch wieder digitalisiert werden müssen. In der Pandemie ist deutlich geworden, dass ein digitalisiertes Gesundheitssystem resilienter ist als ein analoges. Liegen Informationen über die Zahl, die Schwere der Erkrankungen, sowie räumliche und zeitliche Daten vor, können Entscheidungen schneller und besser getroffen werden. Sie müssen dafür aber allen Verantwortlichen zur Verfügung stehen und interoperabel sein, damit die zuständigen Stellen wie Leistungserbringer oder die öffentlichen Gesundheitsämter sie verwerten können.

Ein digitalisiertes Gesundheitssystem ist resilienter als ein analoges.

Häufig wird der Datenschutz als Grund dafür angeführt, dass bestimmte Dinge nicht möglich sind. Ein Beispiel ist, dass eine präzisere Eingrenzung nach Zeit und Ort von Kontakten mit einer Corona-Infektion über die Corona-Warn-App des Bundes (CWA) technisch ohne Probleme möglich gewesen wäre. Das hätte individuell eine bedeutend bessere Risikoabschätzung möglich gemacht, wann ein Kontakt stattfand: im öffentlichen Nahverkehr, während man eine Maske trug, oder doch auf einer Veranstaltung am Abend, bei der keine Pflicht zum Tragen einer Maske mehr bestand. Dabei steht häufig nicht der eigentliche Datenschutz einer digitalen Innovation im Wege, sondern es sind die unterschiedlichen Interessen der Akteure, die den Datenschutz als Argument vorschieben.

Das große Potenzial der Digitalisierung wird oft durch Insellösungen am Entfalten gehindert. Ein Beispiel hierfür ist die derzeitige Ausgestaltung des elektronischen Rezeptes. Damit es voll digital nutzbar ist (und nicht nur als Ausdruck auf einem weißen statt auf einem rosa Blatt Papier), müssen die Patienten und Patientinnen eine App der gematik herunterladen und einen aufwändigen Registrierungsprozess mit NFC-fähiger elektronischer Gesundheitskarte und PIN erfolgreich abschließen. Die Möglichkeit, ein e-Rezept mit den weiter verbreiteten Apps der Kassen zu nutzen, besteht derzeit nicht. Dabei wäre es sinnvoll, dass ein eingelöstes Rezept sofort den Medikationsplan ergänzt und bestehende Medikationen auf Unverträglichkeiten überprüft werden. Auch Erinnerungen zur Medikamenteneinnahme oder eine Prüfung der Zuzahlungsbefreiung könnte integriert werden. Solange solche Prozesse in Silos gedacht werden, wird die Digitalisierung nicht die Breite der Versorgung verändern können.

Ein wettbewerblicher Ansatz würde an dieser Stelle das System insgesamt voranbringen und auch dafür sorgen, dass Leistungserbringer wie Versicherte schnell einen Mehrwert erhalten, so zum Beispiel bei der elektronischen Patientenakte (ePA). Die Vorteile, einen zentralen Datenspeicher mit allen wichtigen Gesundheitsdaten zu haben, liegen auf der Hand. Allerdings muss diese Akte dann auch mit Daten befüllt werden, eine Speicherung der Daten in der ePA muss die Regel werden und darf nicht die Ausnahme bleiben. Dazu gehört auch, dass die notwendigen technischen Komponenten sich nahtlos in die Praxis- oder Klinikabläufe integrieren lassen.

Eine flächendeckend eingeführte, mit Daten gefüllte und von allen einfach zu nutzende ePA ist der Schlüssel zur Digitalisierung im Gesundheitswesen.

Sollen die Menschen in Deutschland zukünftig besser versorgt werden, muss die Digitalisierung weiter vorangetrieben werden. So werden Doppeluntersuchungen vermieden, Untersuchungsmethoden von den invasiven zu den weniger invasiven verlagert und Klinikaufenthalte chronisch Kranker durch Telemonitoring reduziert. Auch der Sachverständigenrat Gesundheit verweist in diesem Zusammenhang auf die Chancen durch einen sektorübergreifenden digitalen Datenfluss und eine gesundheitsorientierte Datennutzung (Sachverständigenrat 2021). Dafür müssen aber die politischen Rahmenbedingen stimmen. Sonst werden innovative Projekte weiterhin nur eine Nischenlösung für affine Digitalanwender bleiben und nicht in die breite Bevölkerung getragen werden.

Wir sind immer noch weit entfernt von einer breiten Durchdringung der bereits eingeführten digitalen Services und Technologien. Erst wenn diese erfolgt ist, kann auch die Debatte über eine weitere Nutzung der Gesundheitsdaten stattfinden. Dazu gehört ebenfalls die Frage, wie in Zukunft Daten genutzt werden sollen. Wird weiter nach dem Prinzip der absoluten Datensparsamkeit und Zweckbindung verfahren, kann nur ein sehr geringer Teil des Potenzials der Digitalisierung genutzt werden (Vergleich weiter oben die CWA). Um die Auswirkungen der Pandemie auszuwerten, werden kaum Gesundheitsdaten aus Deutschland herangezogen. Stattdessen müssen Daten aus Israel, England und den USA analysiert und auf Deutschland übertragen werden.

Die Digitalisierung wird jedoch nicht nur die Kommunikation zwischen Behandelnden und Patientinnen bzw. Patienten sowie den Leistungserbringern untereinander und somit ganz konkret die Versorgung verbessern, sie wird auch große finanzielle Vorteile bringen. Die jährlichen Einsparungen werden auf bis zu 42 Milliarden Euro geschätzt (Biesdorf et al. 2022, S. 2). Um von diesem Einsparungspotenzial profitieren zu können, müssen aber trotz angespannter Finanzlage Investitionen getätigt werden.

Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen auf solide Basis stellen

Die Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) sorgen mit einem Ausgabenvolumen von 285 Mrd. für einen Großteil der Finanzströme im Gesundheitswesen (BMG 2022, S. 134). Gerade in Krisenzeiten dürfen diese Ströme nicht versiegen, damit Leistungserbringer bezahlt werden können und Versicherte beispielsweise Krankengeld erhalten. Während die Kosten für die Behandlung von Menschen mit einer Corona-Infektion in der Pandemie für das System tragbar waren, haben vor allem die Rettungsschirme für die Leistungserbringer große Löcher in die Kassen der GKV gerissen. Die Politik steuerte gegen, indem einzelne Kassen ihre Finanzreserven abbauen mussten und der Gesundheitsfonds durch Steuerzuschüsse gestützt wurde. Prinzipiell war das eine gute Lösung, um das System kurzfristig am Laufen zu halten.

Die Finanzierungsschwierigkeiten in der der GKV deuteten sich jedoch bereits Jahre vorher an. Eine außergewöhnlich gute Konjunktur hatte verschleiert, dass das System in Schieflage zu geraten drohte. Obwohl die Lücke zwischen den Einnahmen und den Ausgaben immer größer wurde, lag der politische Fokus vor allem auf ausgabenintensiven Gesetzen. Die Möglichkeit, in einer finanziell stabilen Situation große strukturelle (und damit zunächst auch meist auch teure) Reformen anzugehen, wurde hingegen verpasst, viele der kostensenkenden Maßnahmen wirkten nur kurzfristig.

Durch die Maßnahmen während der Pandemie ist noch einmal Zeit verloren gegangen, grundlegende Reformen anzugehen, sodass der Handlungsdruck weiter gestiegen ist, die Finanzierung der GKV in Deutschland auf eine solide Basis zu stellen.

Um die Finanzierung auch in Zukunft krisenfest zu machen, muss sie weiterhin unabhängig von politischer Einflussnahme und zudem solide aufgestellt sein. Dazu ist es unerlässlich, dass es den gesetzlichen Krankenkassen wieder gestattet werden muss, finanzielle Reserven in vernünftiger Höhe aufzubauen.

Die derzeitigen politischen Regelungen machen eine solide Finanzplanung vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Turbulenzen unsicher, sodass Schwankungen unter Umständen mit unterjährlichen Beitragssatzanpassungen ausgeglichen werden müssten. In einer erneuten Notlage wie einer weiteren Pandemie wäre das Gesundheitssystem derzeit bei weitem nicht mehr so resilient, wie es noch im Jahr 2020 der Fall war.

Bei einer weiteren Pandemie wäre das Gesundheitssystem derzeit bei weitem nicht mehr so resilient wie noch im Jahr 2020.

Einmalige Steuerzuschüsse verschieben die Probleme nur weiter in die Zukunft, und ein dauerhafter, unbegründeter Steuerzuschuss gefährdet die vom Staatshaushalt unabhängige Beitragsfinanzierung, welche die Basis für das selbstverwaltete Gesundheitssystem ist. Stattdessen muss ein resilientes Finanzsystem der Krankenkassen planbar sein. Dazu zählt, dass der Staat die regulären Steuerzuschüsse für versicherungsfremde Leistungen dynamisiert und kostendeckende Beiträge für Empfänger von Arbeitslosengeld II zahlt. Allein letztere Maßnahme würde laut Schätzungen jährlich rund 10 Milliarden Euro ausmachen (Albrecht et al. 2017).

Auch wenn politisch keine Leistungskürzungen zur Kostenreduktion angedacht sind, muss die Ausgabenseite betrachtet werden, wenn die Finanzierung der GKV nachhaltig gestaltet werden soll. Eine Schlüsselrolle nehmen dabei Maßnahmen ein, die schnell wirken und rasch umsetzbar sind, da sie kurzfristig die finanzielle Handlungsfähigkeit sichern und weitere teure, aber dringend notwendige Reformen ermöglichen. Dazu sollte den Krankenkassen zum Beispiel wieder die Möglichkeit gegeben werden, mehr Krankenhausrechnungen auf Fehler zu prüfen. Die Politik könnte zudem für fairere Preise im Arznei- oder im Hilfsmittelbereich sorgen. Konsequentes Vorantreiben der Digitalisierung und eine Stärkung der ePA würde zudem zu einem Abbau von Bürokratie und Doppelstrukturen führen. Überfällig ist außerdem eine Reduktion der Krankenhausbetten, die Fehlanreize schaffen und zudem kostbares Personal binden.

Strukturelle Krankenhausreform angehen

Die Kliniken planten während der Pandemie in kurzer Zeit die stationäre Versorgung um, verlegten Patientinnen und Patienten, weiteten Intensivkapazitäten aus, verschoben planbare Eingriffe und organisierten Personal um (Gaß u. Visarius 2022, S. 92). Die Einführung des Intensivregisters der deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin ist ein gutes Beispiel dafür, wie schnell digitale Lösungen eingeführt werden können und wie hilfreich sie dabei sind, die Lage zu bewerten und die Pandemie zu bewältigen. Mit dem Krankenhauszukunftsgesetz ist ein guter Schritt gemacht worden, um deren Digitalisierung weiter voranzubringen.

Ähnlich wie bei der Finanzierung des Systems hat auch hier die Corona-Pandemie dazu beigetragen, dass dringend notwendige Reformen auf sich warten lassen. Die Rettungsschirme in der Pandemie haben einigen Häusern einen Aufschub bei der Lösung vorhandener Probleme gewährt, aber diese sind nicht gelöst und bestehen weiter: Kostensteigerungen, Personalengpässe und ungesteuerte Stationsschließungen. Dabei gibt es in Deutschland viel zu viele Krankenhausbetten und viel zu wenig Spezialisierung. Das kostet Geld und kann Patientinnen und Patienten schaden, denn eine fehlende Ausstattung hindert Krankenhäuser oft nicht daran, die Patienten, die sie eigentlich nicht adäquat behandeln können, trotzdem zu behandeln (Busse 2021, S. 244).

Wichtig bei der Reform ist eine koordinierte Gesamtstrategie, denn ohne sie können auch sinnvolle Einzelmaßnahmen Schaden anrichten. Gerade vor dem Hintergrund eines resilienten Gesundheitssystems sind die derzeit diskutierten Vorhaltekosten ein guter Schritt. Führt man sie aber ohne Koppelung an den tatsächlichen Bedarf ein, können sie das Überangebot subventionieren und somit zementieren. Vor dem Hintergrund der föderalen Krankenhausstrukturen in Deutschland ist eine differenzierte Planung mit bundesweit einheitlichen Kriterien und einer zwischen Ländern abgestimmten Planung jedoch nur schwer umsetzbar.

Neben der Strukturreform und einer umfassenden Digitalisierung im Sinne der Vernetzung zwischen den Sektoren muss auch das Problem des Fachkräftemangels in den Kliniken gelöst werden. Der Pflegepersonalmangel ist derzeit die limitierende Größe in der Intensivversorgung. Dabei sind es häufig die Arbeitsbedingungen, die den Menschen in der Pflege zu schaffen machen und weniger die finanzielle Wertschätzung. Zu der vorhandenen Dauerbelastung sind die Pandemiejahre hinzugekommen. In der Folge reduzieren viele Pflegende Stunden oder wechseln den Beruf ganz.

Dokumentationspflichten und Bürokratie sollten auf Sinnhaftigkeit überprüft, bestehende analoge und digitale Doppelstrukturen abgebaut werden. Auch wenn die Pflegepersonaluntergrenzen aufgrund der Pandemiesituation flexibel herabgesetzt wurden, um Stationen offen zu halten, kann dies dauerhaft kein Mittel sein, um die Versorgung sicherzustellen. Dies ginge zulasten der Patientinnen bzw. Patienten und belastet die eingesetzten Pflegekräfte umso mehr. Eine resiliente Krankenhauslandschaft kann nicht auf einer dünnen Personaldecke mit analogen Prozessen und ohne sektorenübergreifende, leistungs- und qualitätsorientierte Bedarfsplanung stehen.

Eine resiliente Krankenhauslandschaft kann nicht auf einer dünnen Personaldecke stehen.

Nicht auf Lieferketten verlassen

Als sich im Winter 2020 die Ausmaße der Corona-Pandemie langsam abzeichneten, wurde schnell klar, dass unser Land auf ein Ereignis dieses Ausmaßes schlecht vorbereitet war. Es folgte ein Nachfrageboom auf Schutzausrüstung und Medizintechnik, dem die Hersteller nicht nachkommen konnten. Denn zusätzlich zu den medizinischen Einrichtungen konkurrierten nun auch Privatpersonen um Masken, Handschuhe und Desinfektionsmittel – und zwar weltweit. Dies führte zu einem irrationalen Bestellverhalten und unkoordinierten wie unabgestimmten Hamsterkäufen auf dem Weltmarkt. Zusätzlich wurden aufgrund der Lockdowns Produktionsstätten geschlossen und die internationalen Transportwege, beispielsweise durch Grenzschließungen, gestört (Jakobs-Schäfer 2022, S. 276).

Nicht nur die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die globalen Lieferketten wesentlich anfälliger sind, als es vor ein paar Jahren vielleicht noch angenommen wurde. Die Havarie des Containerschiffs „Ever Given“ und die damit einhergehende Blockade des Suezkanals, Streiks von Hafenarbeitern und auch der Krieg in der Ukraine sowie die damit verbundenen Sanktionen gegen Russland wirken sich teils unmittelbar auf die generelle Warenverfügbarkeit aus.

Was zu weltweitem Wohlstandswachstum führen sollte, erweist sich in Krisen oftmals als Bumerang: Die Globalisierung erlaubte es, Produktionen in Billiglohnländer zu verlegen, und führte zu Kosteneinsparungen sowie Profitsteigerung. Der zuverlässig laufende Warenstrom erlaubte es zudem, die teure Lagerhaltung auf ein Minimum zu reduzieren.

Während sich die globalen Lieferketten von Konsumgütern von den Schocks langsam wieder erholen, scheinen die Pharmaunternehmen nicht mehr aus dem Krisenmodus herauszukommen. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass viele Wirkstoffe in wenigen Werken in China produziert werden und die eigentliche Herstellung der Arzneimittel dann oftmals in Indien erfolgt. Aber auch eine Produktion von Arzneimitteln in Europa schützt nicht vor Lieferausfällen. Denn deren Ursachen sind vielfältig. So können zum Beispiel auch Personalknappheit (EMA 2023) oder eine „Verzögerungen bei der Lieferung von Pen‐Komponenten und Probleme bei der Abfüllung, Montage und Verpackung“ zu Lieferausfällen führen (BfArM 2023), obwohl die eigentliche Herstellung in Europa erfolgt.

Eine vollständige Autarkie von globalen Lieferketten ist sowohl für Deutschland als auch für Europa unrealistisch.

Eine vollständige Autarkie von globalen Lieferketten ist sowohl für Deutschland als auch für Europa unrealistisch. Ebenfalls wird es nicht möglich sein, allein durch ein Anheben der Preise Produktionsschritte nach Europa zu holen. Denn Lieferausfälle sind selten auf reinen Kostendruck zurückzuführen. Die Pharmaindustrie ist auf Gewinnmaximierung ausgelegt, und jedes Unternehmen wird immer dort produzieren, wo es am kostengünstigsten ist. Generell ist es im ureigenen Interesse eines jeden Unternehmers, Lieferausfälle so weit wie möglich zu vermeiden.

Es sollte ein Mindestbestand von zentralen Arzneimitteln, Verbrauchsmitteln für Medizinprodukte und Schutzausrüstung im Rahmen des Katastrophenschutzes bevorratet werden. Um kurzfristige Schwankungen der globalen Lieferketten auszugleichen, ist die verpflichtende Bevorratung von bestimmten Arzneimitteln oder der Komponenten (bei begrenzter Lagerfähigkeit) sinnvoll.

Dem Klimawandel angemessen begegnen

Der derzeit stattfindende Klimawandel wird unseren Planeten und unser Leben auf vielen Ebenen verändern. Die genauen Folgen sind bislang nicht seriös vorherzusagen, aber es scheint bereits festzustehen, dass Deutschland vor allem häufiger von Extremwetterereignissen wie Hitzeperioden, starken oder langanhaltenden Niederschlägen und Stürmen betroffen sein wird. Das wird wahrscheinlich auch der Fall sein, wenn der globale Temperaturanstieg auf 1,5 Grad begrenzt werden kann. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass der Klimawandel die größte Gesundheitsbedrohung für die Menschheit ist („single biggest health threat facing humanity“) (WHO 2021).

Die direkten Auswirkungen des Klimawandels werden im Gesundheitssystem zunächst vor allem für die Rettungskräfte und den Katastrophenschutz bedeutend, die zukünftig häufiger auf extreme Wetterereignisse wie Überschwemmungen oder Waldbrände reagieren werden müssen. Lange oder starke Hitzeperioden führen durch Hitzschlag, Dehydrierung und der damit einhergehenden Belastung des Kreislaufs zu einer erhöhten Sterblichkeit vor allem älterer und kranker Menschen (Sachverständigenrat 2023, S. 35). Außerdem bedroht der Klimawandel die Gesundheit auch durch Zunahme von übertragbaren Krankheiten durch Lebensmittel, Wasser, Zoonosen und Vektoren (WHO 2021). Auch die Pollensaison verlängert sich und führt so zu einer längeren Beschwerdezeit für Allergiker. Betroffene leiden unter neuen Allergenen wie zum Beispiel der Pflanze Ambrosia artemisiifolia, die sich in den letzten Jahren vermutlich durch Beimengung in Vogelfutter in weiten Teilen Deutschlands ausbreiten konnte. Ihre Pollen können starke allergische Reaktionen auslösen (BMUV 2018).

Im Fokus muss natürlich die Bekämpfung des Klimawandels selbst stehen, zum Schutz der Bevölkerung müssten aber zusätzlich Frühwarnsysteme für Hitzewellen, erhöhte Ozon- und UV-Werte eingerichtet werden. Dennoch fehlt es an einem nationalen Plan, wie ihn zum Beispiel auch der Sachverständigenrat fordert, um das deutsche Gesundheitssystem auf die Auswirkungen des Klimawandels vorzubereiten (BMUV 2020).

Wie wir durch die nächsten Krisen kommen

Der Sachverständigenrat attestiert dem deutschen Gesundheitssystem, dass es ein sehr komplexes, fragiles, nicht sehr reaktionsschnelles und wenig anpassungsfähiges „Schönwettersystem“ ist (Sachverständigenrat 2023, S. XXV). Sicher war das gesamte Gesundheitswesen schlecht auf eine globale Pandemie vorbereitet. Betrachtet man aber retrospektiv, wie wir in Deutschland insgesamt durch die Pandemie gekommen sind, ist auch eine andere Schlussfolgerung möglich. Nur exemplarisch seien hier die Flexibilität der Leistungserbringer durch Umwandlung von Stationen und Reha-Einrichtungen, die Impfkampagne durch Hausärzte und die schnelle Einführung von digitalen und telemedizinischen Lösungen genannt. Letztendlich haben aber natürlich auch politische Maßnahmen wie Lockdowns und freiwillige Kontaktbeschränkungen dazu beigetragen, das Pandemiegeschehen unter Kontrolle zur bringen.

Auch wenn wir in Anbetracht der überstandenen Corona-Pandemie auf ein zumindest bedingt resilientes System blicken können, muss es mit dem Blick auf mögliche kommende Schocks von außen dringend weiterentwickelt werden. Selbst wenn eine globale Pandemie ein Jahrhundertereignis ist, kann sich jederzeit wieder ein neues Virus auf ähnliche Weise ausbreiten. Wie weiter oben beschrieben, wird zudem der Klimawandel große Herausforderungen mit sich bringen. Hinzu kommen Ereignisse, die heute noch überhaupt nicht oder nur sehr schwer vorstellbar oder vorhersagbar sind, wie der russische Angriffskrieg in der Ukraine oder weitere Naturkatastrophen globalen Ausmaßes.

Ein resilientes System ist nicht nur in Krisenzeiten besonders effektiv, sondern auch unter normalen Bedingungen.

Das Gesundheitssystem zu einem resilienten weiterzuentwickeln beziehungsweise seine Resilienz zu verbessern, ist ein kontinuierlicher Prozess, der nicht immer einfach ist. Noch in der Pandemie waren die Verantwortlichen in Politik und Wissenschaft mit dem Vorsorgeparadoxon konfrontiert, ein Phänomen, das auch in anderen Bereichen wie dem Klimawandel, auftreten kann. Dies gilt es zu überwinden. Wir sollten auch gegen Widerstände weiter an Notfallplänen arbeiten. Der Sachverständigenrat sieht die Resilienz als zentrale Aufgabe im Gesundheitswesen. Als solche sollten wir sie auch behandeln, denn ein resilientes System ist nicht nur in Krisenzeiten ein effektives und gutes System, sondern auch unter normalen Bedingungen.

Literatur

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BfArM (2023) Informationsbrief INSUMAN RAPID/INSUMAN BASAL/INSUMAN COMB 25 (Humaninsulin): Vorübergehender Lieferengpass. URL: www.bfarm.de/SharedDocs/Arzneimittelzulassung/Lieferengpaesse/DE/2023/info_insulin_20230222.pdf?__blob=publicationFile (abgerufen am 13.07.2023)

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Bundestag (2013) Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012. Drucksache 17/12051. URL: https://dserver.bundestag.de/btd/17/120/1712051.pdf (abgerufen am 13.07.2023)

Busse R (2021) Ein Plädoyer für eine bedarfsgerechte und qualitätsorientierte Neuordnung der Krankenhauslandschaft. In: Baas J (Hrsg.) Perspektive Gesundheit 2023. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin

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Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) (2023) Resilienz im Gesundheitswesen: Wege zur Bewältigung künftiger Krisen. Gutachten 2023. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin

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