Interview mit
Dr. Florian Roth
Das Interview führte Dr. Andreas Meusch

Dr. Florian Roth

Florian Roth hat Politikwissenschaft, Geschichte und Medienwissenschaft an der Universität Konstanz studiert. In seiner Promotion beschäftigte er sich mit der Frage, wie politische Akteure Entscheidungen unter Bedingungen hoher Komplexität und Unsicherheit treffen und diese kommunizieren. Anschließend arbeitete er in unterschiedlichen Forschungsprojekten an der ETH Zürich sowie am Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe. Seit 2022 forscht und lehrt Florian Roth an der Züricher Hochschule für Angewandten Wissenschaften (ZHAW). Der Fokus seiner Arbeit bildet unter anderem die Verbindung von Resilienz, Innovation und Nachhaltigkeit.

Dr. Andreas Meusch

Andreas Meusch ist Beauftragter des Vorstands der Techniker Krankenkasse (TK) für strategische Fragen des Gesundheitssystems und Lehrbeauftragter an der Fakultät Wirtschaft und Soziales der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW). Vor seiner Tätigkeit für die TK war er Leiter der Landesvertretung Baden-Württemberg der Ersatzkassenverbände und Referatsleiter im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Er hat Politik, Geschichte und Publizistik in Mainz, Dijon und Krakau studiert und war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für internationale Politik der Johannes-Gutenberg-Universität, Mainz.

Der Sachverständigenrat Gesundheit (SVR) bezeichnet das deutsche Gesundheitssystem als „Schönwettersystem“. Teilen Sie diese Ansicht?

Für das deutsche Gesundheitssystem gilt wie für andere Bereiche auch: Es ist auf betriebswirtschaftliche Effizienz getrimmt. Kurzfristige Effizienzmaximierung steht aber in einem Spannungsfeld zum Ziel systemischer Resilienz: Gerade ein Gesundheitssystem darf nicht nur unter optimalen Bedingungen funktionieren. Ich will es mit einem Bild beschreiben: Ein Formel-1-Wagen ist für Rennen optimiert. Technik, Aerodynamik, Gewicht: Alles ist optimiert auf Effizienz und Geschwindigkeit unter sehr engen Parametern. Zugleich sind diese Boliden nicht wirklich robust, sie sind im Gegenteil sehr störanfällig. So extrem ist es in unserem Gesundheitssystem nicht, aber der SVR leistet einen wichtigen Beitrag, wenn er die fehlende Resilienz des Gesamtsystems frühzeitig thematisiert.

Ihre These ist also, dass die betriebswirtschaftlichen Optimierungen einzelner Systemelemente die Krisenanfälligkeit des Gesamtsystems erhöhen. Durch welche Maßnahmen kann man jetzt, kann der Gesetzgeber gewährleisten, dass die Resilienz des Gesamtsystems mit Blick auf künftige Krisen verbessert wird?

Volkwirtschaftlich gesprochen geht es hier um die Internalisierung externer Kosten. Wie schaffe ich Anreize, zum Beispiel für Pharmaunternehmen, ihre Lieferketten so zu organisieren, dass die Lieferfähigkeit von Medikamenten auch in Krisenzeiten gewährleistet bleibt? Darauf gibt es keine einfachen Antworten. Ich bezweifele aber, dass es ein guter Ansatz ist, den Pharmaunternehmen einfach mehr Geld zu bezahlen in der Hoffnung, dass sie das Geld für die Resilienz der Lieferketten verwenden. Die Erfahrung zeigt leider, dass Unternehmen häufig Investitionen in Resilienz unterlassen, um kurzfristig Kosten zu optimieren, insbesondere wenn sie damit rechnen können, dass im Falle einer Krise die Allgemeinheit für die Schäden aufkommt.

Es ist aber gut, dass jetzt wenigstens das Problem in der Gesellschaft und der Politik diskutiert wird. Das Gesundheitssystem kann hier von anderen Bereichen lernen. Die CO2-Abgaben sind ein Beispiel dafür, wie Gesellschaften es geschafft haben, die externen Kosten des klimaschädlichen Verhaltens zumindest teilweise zu internalisieren.

Ich habe also kein Patentrezept, mir ist es aber wichtig zu betonen, dass es dafür Lösungen geben kann. Wir haben jetzt ein wachsendes Bewusstsein für solche Probleme. Diese Chance müssen wir nutzen.

Das ist ein Plädoyer gegen ein „Weiter so“!

Ja, ich halte nichts von der Bambus-Metapher, die im Kontext von Resilienz häufig herangezogen wird: In der Krise biege ich mich, um danach wieder in die Ausgangssituation zurückzukehren. Richtig ist vielmehr: Systeme – also auch das deutsche Gesundheitssystem – brauchen die Fähigkeit zur Transformation, sich zu wandeln und sich an sich ändernde Rahmenbedingungen anzupassen. Nicht nur Krisen, sondern auch die demografische Entwicklung, der Fachkräftemangel und die Digitalisierung erfordern Veränderungen. Die Zukunftsfähigkeit und damit auch die Resilienz hängen davon ab, sich anzupassen. Das gibt es nicht zum Nulltarif – weder finanziell noch intellektuell.

Resilienz und damit Zukunftsfähigkeit hängen davon ab, sich anzupassen.

Wenn ich Sie richtig verstehe, werden dadurch aber die Ausgaben steigen.

Kurzfristig ist das so. Die Feuerwehr kostet auch erst einmal Geld, für das es keinen unmittelbaren „Return on Investment“ gibt. Dennoch gibt es einen gesellschaftlichen Konsens, dass es sinnvoll ist, die Kosten von Feuerwehren zu tragen. Genauso ist es auch bei Investitionen in die Resilienz des Gesundheitssystems: Wir brauchen einen Konsens, dass es sinnvoll ist, Investitionen zu tätigen, die sich bezahlt machen, wenn Krisen eintreten: Pandemien, Lieferengpässe, Hochwasser, Stromausfälle, Kriege oder was die Zukunft sonst noch bringen mag.

In Ihren Forschungen beschäftigen Sie sich auch damit, dass die öffentliche Kommunikation von Risiken und Krisen eine wichtige Bedingung für die Legitimation demokratischer Politikgestaltung ist. Können Sie das erläutern und welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus für eine resiliente Gesundheitspolitik?

Die Kommunikation in der Krise ist aus meiner Sicht die Königsdisziplin der politischen Kommunikation. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass es in Krisen eine zentrale Stelle gibt, die den Überblick hat und deshalb auf der Grundlage vorhandener Informationen die richtigen Entscheidungen trifft. Dass ist aus zwei Gründen unrealistisch:

Es gibt in Krisen nicht die eine zentrale Stelle, die den Überblick hat.

  • Entscheidungen in Krisensituationen sind immer Entscheidungen unter Unsicherheit. Die Notwendigkeit der Entscheidung reicht deshalb immer weiter als der Horizont des Wissens. Der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat dies auf die Formel gebracht, „Wir werden uns anschließend viel zu verzeihen haben“. Das ist eine realistische Einschätzung. Prognosen sind schon in normalen Zeiten eine Herausforderung. In Krisenzeiten muss entschieden werden mit dem hohen Risiko, hinterher falsifiziert zu werden. Wer dazu nicht bereit ist, hat im Krisenmanagement nichts zu suchen. Man muss damit leben, dass hinterher alle schlauer sind.
  • Der Informationsfluss ist Teil des Problems. Krisenstäbe werden mit Informationen überflutet. Für die Verantwortlichen ist es so, als ob sie aus einem Feuerwehrschlauch trinken. Die Fülle der Informationen ist kaum zu bewältigen. Auch hier gilt: Die Krisenvorbereitung ist entscheidend. Wer sich nicht bereits in der Krisenvorbereitung mit der Frage beschäftigt, welche Informationen entscheidungsrelevant sind und wie er die Informationsflut kanalisiert, wird in der Krise im Informations-Overkill untergehen. Das ist leider in der Corona-Krise zum Teil zu beobachten gewesen.

Sie betonen die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Konsenses für Maßnahmen zur Stärkung der Resilienz im Gesundheitswesen. In Ihren Forschungen haben Sie sich mit dem Zusammenspiel von parlamentarischer Politik, Medien und Öffentlichkeit beschäftigt: Was sind die wichtigsten Erkenntnisse im Kontext Resilienz des Gesundheitswesens?

Meine wichtigste Erkenntnis ist, dass Top-down-Ansätze in demokratischen Systemen nur begrenzt funktionieren. Das hat auch die Corona-Pandemie gezeigt. Verbote, wie sinnvoll sie im Einzelfall sein mögen, wecken Widerstände. Deshalb ist es klüger, die Zeit vor der Krise zu nutzen, um gesellschaftliche Akteure zu beteiligen. Wer sich einbringen kann und nicht nur passives Objekt staatlicher Maßnahmen ist, leistet auch eher einen Beitrag zur Lösung der Probleme, stärkt also die Resilienz des Systems.

Kommunikation ist für Sie ein wichtiger Schlüssel für die Stärkung gesellschaftlicher Resilienz. Was schlagen Sie konkret vor?

Für meine Studien habe ich eine Vielzahl von Gesprächen mit Entscheidern geführt. Mein Eindruck: Es gibt bei ihnen eine starke Skepsis gegenüber der Beteiligung von Nicht-Fachleuten am Krisenmanagement. Die dominierende Sicht von Entscheidungsträgern ist: Nicht-Fachleute sind ein Störfaktor im Krisenmanagement. Wir brauchen hier eine grundlegend andere Sicht, sonst werden vorhandene Ressourcen, die dringend gebraucht werden, nicht genutzt. Ob es um das Hochwasser an der Ahr oder die Flüchtlingssituation geht: Ohne die aktive Beteiligung von Menschen außerhalb von „professionellen Strukturen“ wäre dies nicht zu bewältigen.

Welche Rolle spielen die Medien?

Aus meiner Sicht ist es für die Stärkung der systemischen Resilienz unverzichtbar, sich in der Krisenvorbereitung viel mehr Gedanken über den Umgang mit den Medien zu machen – auch den sozialen Medien. Das ist ein relevanter Aspekt für die Nachbereitung der Corona-Krise als Vorbereitung auf die nächste Krise. Hierzu gehört auch die Einsicht, dass der Anteil der Menschen, die die Medien ziemlich undifferenziert nur als Sprachrohr der Herrschenden sehen, wächst. Sie sind offen für populistische Thesen bis hin zu Verschwörungstheorien. Damit müssen wir umgehen.

Wie stellen Sie sich eine solche Aufbereitung vor?

In der Politik geht es häufig vor allem um die Suche nach Schuldigen. Gerichte und Untersuchungsausschüsse sind deshalb kaum geeignet für die Frage der Aufarbeitung im Sinne von „Lessons learned“. Vielleicht helfen Enquête-Kommissionen. Wenn man das Blame-Game der Medien schon nicht verhindern kann, sollte die Politik es nicht auch noch befeuern, sondern nüchtern analysieren, was schiefgelaufen ist und was man beim nächsten Mal besser machen kann.

Sie halten den Versuch, das Verhalten von Menschen in Krisen durch Nudging in eine bestimmte Richtung zu steuern, für kontraproduktiv. Warum?

Das klassische Beispiel für erfolgreiches Nudging sind öffentliche Toiletten für Männer. Die Fliege im Urinal mag dazu führen, dass Toiletten sauberer bleiben. Für eine Kommunikationsstrategie seitens Behörden sehe ich Nudging jedoch problematisch, da dieser Ansatz zumeist versucht zu manipulieren und damit unweigerlich im Gegensatz zum Anspruch der Transparenz steht. Zudem fußt Nudging auf der Annahme, dass die Behörden wissen, was richtiges Verhalten ist, die Bedürfnisse der betroffenen Menschen werden hingegen kaum berücksichtigt. Involvement statt Nudging, das ist mein Rat.

Zentralistische Staaten sind nicht besser durch die Krise gekommen.

Sie plädieren dafür, in Krisen nicht zentral zu handeln, sondern auch kleinere Einheiten zu befähigen, Entscheidungen zu treffen. In der Corona-Krise war die Kakophonie der föderalen Maßnahmen aber kein Erfolgsrezept für die Akzeptanz der getroffenen Regelungen. Wie kann man dezentrale Entscheidungsfindung und einheitliche Kommunikationsstrategie miteinander vereinbaren?

Mein Eindruck ist nicht, dass zentralistische Staaten wie Frankreich besser durch die Krise gekommen sind. Was in Deutschland zur Wahrnehmung der Maßnahmen als Kakophonie beigetragen hat, ist, dass die Pandemie die Politik unvorbereitet getroffen hat. Es gab keine eingeübten Prozesse der Abstimmung. Deshalb ist es unverzichtbar, in der Krisenvorbereitung Abstimmungsprozesse einzuüben. In jeder Krise muss improvisiert werden, denn jede Krise ist anders als die vorhergehende. Aber professionelle Vorbereitung ist wichtig, um das Maß und die Art der Improvisation zu beeinflussen, das Krisenmanagement und die Krisenkommunikation zu professionalisieren.

Sie plädieren dafür, die Zivilgesellschaft zu stärken. Was schlagen Sie dafür vor und wie wird uns das in künftigen Krisen helfen?

Entscheidend ist, dass man in der Vorbereitung auf eine Krise Strukturen und Netzwerke schafft, um zivilgesellschaftliches Engagement in die Bewältigung der Krise einzubeziehen. Wenn die Fluten durch das Ahrtal rauschen, ist es zu spät, Strukturen zu schaffen. Aber mein Eindruck von außen ist: Das zivilgesellschaftliche Engagement hat sich da bewährt, darauf kann man aufbauen.

Wenn die Fluten durch das Ahrtal rauschen, ist es zu spät, Strukturen zu schaffen.

Sie arbeiten auch in der Schweiz. Was kann Deutschland mit Blick auf Resilienz des Gesundheitssystems von den Schweizern lernen?

Ein wichtiges Stichwort ist Bevorratung. In der Schweiz gibt es eine Tradition, über entsprechende Verträge sicherzustellen, dass für Krisenzeiten Vorräte angelegt werden. In der Schweizer Bevölkerung gibt es ein Bewusstsein für die Notwendigkeit privater Krisenvorbereitung. Das wird von der Regierung gefördert, entscheidend aber ist, dass es fast als eine staatsbürgerliche Pflicht angesehen wird – wie wählen gehen.

Wir sind jetzt am Ende unseres Gesprächs. Welche Botschaft ist ihnen noch wichtig?

In meinen Forschungen und Gesprächen ist mir aufgefallen, dass wir in Deutschland praktische keine Institutionen haben, die die Erfahrungen vergangener Krisen auswerten und einen strukturierten Prozess des institutionalisierten Vorbereitens auf die Krisen der Zukunft systematisch nach vorn bringen. Darauf zu setzen, dass die Vielzahl von Einzelaktivitäten schon zu mehr Resilienz führen wird, greift aus meiner Sicht zu kurz.

Herr Roth, Ich danke Ihnen für dieses Gespräch.