Die Chancen der Digitalisierung
für eine Klinikgruppe
Thomas Lemke

Der Autor

Thomas Lemke

Thomas Lemke ist seit 2006 Teil des Vorstands der Sana Kliniken AG. Den Vorsitz des Vorstandes übernahm er im Jahr 2017.

Digitalisierung als Allgemeingut

Schon vor der Pandemie waren sich die Politik, die Wissenschaft, die Kostenträger und die Krankenhäuser einig, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen der medizinischen Versorgung einer grundlegenden Reform bedürfen. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen vom steigenden Versorgungsbedarf einer älter werdenden Bevölkerung über zunehmende Versorgungslücken im ländlichen Raum bis hin zu schlecht aufeinander abgestimmten Behandlungsprozessen im Bereich der sektorenübergreifenden Versorgung. Dass insbesondere die Kostenträger das Ziel der Ambulantisierung von Krankenhausleistungen und einen damit verbundenen Kapazitätsabbau verfolgen, soll hier nicht unerwähnt bleiben. Hinzu kommen eine Digitalisierung, die ihre Potenziale bei weitem noch nicht ausschöpft, und eine Vielzahl von Nachweis- und Dokumentationsverpflichtungen, die den Beschäftigten in den Kliniken und Arztpraxen viel Zeit für die Behandlung ihrer Patientinnen und Patienten stiehlt. Eine große Herausforderung ist auch der zunehmende Fachkräftemangel. Insbesondere im Bereich der Pflegekräfte, der Ärztinnen und Ärzte sowie der IT-Kräfte können die Krankenhäuser schon heute freie Stellen häufig nicht besetzen. Diese Situation wird sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen und auf fast alle Gesundheitsberufe im Krankenhaus ausweiten.

Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und ihre Mitgliedsverbände haben die Politik vor diesem Hintergrund bereits im Herbst 2019 aufgefordert, die gesetzlichen Rahmenbedingungen der medizinischen Versorgung grundlegend zu reformieren und ungesteuerte Umbrüche der Versorgungsrealität über immer mehr Vorgaben, Kontrollmechanismen und Sanktionsandrohungen („kalte Strukturbereinigung“) zu beenden. In ihrem Appell erneuerten die DKG und ihre Mitgliedsverbände ausdrücklich ihr Angebot, sich auch in schwierige Strukturdiskussionen, wie den Abbau nachweisbar nicht bedarfsnotwendiger Kapazitäten, aktiv einzubringen.

Was umfasst eigentlich der Begriff der Digitalisierung, insbesondere im Gesundheitswesen?

Versteht man Digitalisierung im engeren Sinne, dann geht es stets um die Frage der Wandlung von analogen Daten in einheitlich parametrierte und digital weiter zu verarbeitende Daten und Informationen. Das klingt zunächst relativ simpel, stellt jedoch das Gesundheitswesen und vor allem die Kliniken vor extreme Herausforderungen. Wer kennt nicht die zahllosen Schnittstellen, nicht nur die klassischen, sondern auch die Datensilos, die aufgrund der proprietären Datenhaltung unzähliger Systeme nicht oder nur eingeschränkt miteinander kommunizieren können.


Die Chancen einer Klinikgruppe liegen insbesondere darin, den Wildwuchs von Systemen zu begrenzen und damit zu standardisieren. Es geht schlicht um die Schaffung einer stabilen IT-Infrastruktur, damit die Einrichtungen innerhalb der Klinikgruppe untereinander nicht nur vernetzt sind, sondern nach einheitlichen Vorgaben und unter Nutzung klar definierter Systemanforderungen kommunizieren können. Damit schafft man die notwendige Basis, dass Einrichtungen unterschiedlicher Versorgungsstufen und mit einem differenzierten regionalen Bezug Daten und Informationen im Sinne einer patientenbezogenen Versorgung austauschen können.


Sehr häufig werden in diesem Zusammenhang die Mehrwerte der Digitalisierung bemüht, wie

  • die Umsetzung personalisierter Medizin,
  • die Gewinnung von Daten zur Versorgungsforschung,
  • die Entwicklung entscheidungsunterstützender Systeme für die Diagnostik oder auch
  • die Behandlung und der Einsatz von künstlicher Intelligenz.

Dies ist alles richtig und man wird zukünftig breiteste Anwendungen diesbezüglich im Alltag erleben. Wer aber schon einmal versucht hat, den gigantischen Datenschatz zu heben, um ihn für all die genannten Themen nutzbar zu machen, weiß, wie anspruchsvoll der Weg dahin ist.


Am Horizont ergeben sich insbesondere für eine Klinikgruppe mit einer hohen Anzahl von Einrichtungen aller Versorgungsstufen exzellente Perspektiven, Akteur und damit Gestalter der klassischen Schnittstelle, nämlich der zum Kunden und hier zum Patienten, zu bleiben bzw. zu werden.


Die kurzfristigen Chancen der Digitalisierung im klinischen Alltag liegen aber nach Ansicht des Autors in der Schaffung verbesserter Arbeitsbedingungen für das in den Gesundheitseinrichtungen eingesetzte Personal. Regulatorische und damit in wesentlichen Teilen nicht mehr beherrschbare bürokratische Anforderungen an den Regelbetrieb von Kliniken überfordern zunehmend den Faktor Mensch. Verfolgt man die vielfältigen Umfragen der letzten Jahre, so ist die zunehmende Bürokratisierung und damit die abnehmende Zeit für Ärzte und Pflege, sich dem Patienten zu widmen, eine der Hauptursachen für eine fehlende Attraktivität dieser Berufe. Vor diesem Hintergrund wird der Einsatz und die Implementierung neuer Systeme zur Schaffung eines papierlosen Krankenhauses im Vordergrund stehen. Damit wird Digitalisierung vor Ort praktisch erlebbar und der Nutzen ist für jeden Einzelnen spürbar.


Digitalisierung bietet aber auch Chancen, das Führungsverhalten und damit die Kultur in den Kliniken zu verändern. Digitalisierung ist ja kein Selbstzweck. Digitalisierung bedeutet vielmehr Veränderung, Veränderung von Abläufen und Prozessen, um sich bei abnehmenden Ressourcen noch besser auf die Bedürfnisse der Patienten einstellen zu können. Wem es gelingt, diese Veränderungsprozesse gut zu managen, der wird die Früchte, d. h. eine verbesserte Wettbewerbsfähigkeit, ernten können.

Digitalisierung im weiteren Sinne

Neben den beschriebenen Chancen der Digitalisierung, vor allem im Hinblick auf Prozessverbesserungen und die Herstellung der Austauschbarkeit von Daten und Informationen, ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, das eigene traditionelle Geschäftsmodell weiter zu entwickeln. Wie in anderen Sektoren und das auch über unsere Ländergrenzen hinweg, geht der Trend, um nicht zu sagen, der intensive Wettbewerb dahin, den Kontakt zu seinem individuellen Kunden im ersten Schritt nicht zu verlieren, sondern in einem zweiten Schritt, die steigende Nachfrage nach Gesundheitsdienstleitungen ergänzend zum klassischen Angebot stationärer und ambulanter Versorgung zu befriedigen.


Der ganzheitliche Ansatz eines veränderten Nachfrageverhaltens kann durch die Implementierung digitaler Geschäftsmodelle bedient werden. Dabei spielt die Vernetzung der unterschiedlichsten Akteure untereinander eine entscheidende Rolle. Diejenigen, die sich als offene Netzwerkpartner verstehen, um ihren individuellen Nutzen für die Kunden zu bündeln, werden die Möglichkeiten der Digitalisierung nicht nur im Sinne von klassischer IT nutzen, sie werden den Fortbestand ihres Unternehmens sichern.


Das Nachfrageverhalten der Menschen nach Gesundheitsdienstleistungen in den nächsten Jahren wird sich deutlich verändern. Festzustellen ist bereits heute das große Bedürfnis nach der Suche von einheitlichen bzw. ganzheitlichen Leistungsangeboten. Insbesondere in einer seit Bismarck geprägten Organisation der Versorgung des Gesundheitswesens in Deutschland in zig Sektoren wird der Druck immer größer, diese zum Teil künstlichen und teuren Sektorengrenzen aufzubrechen. Mit den Möglichkeiten einer digitalisierten Welt werden dem Menschen rund um die Uhr Angebote aller Art bezüglich seiner individuellen Bedürfnisse gemacht. Diese Angebote müssen transparent, einfach zu verstehen und flexibel bzw. schnell nutzbar sein. Diese Angebote werden sich zukünftig auf Plattformen wiederfinden. Teil solcher Plattformen zu sein bzw. zu werden, ist eine riesige Chance für die Kliniken. Das Heft des Handels dürfen wir in Deutschland nicht in die Hände der angelsächsischen Tech-Riesen legen. Diese Zukunftschance sollten wir selber nutzen!