Zwischen Anspruch
und Realität:
DiGA im Versorgungsalltag.

Ergebnisse aus dem BMC-Innovationspanel 2021

Volker Amelung, Johanna Nüsken und Melina Ledeganck
Bundesverband Managed Care e.V.

Die digitale Transformation ist in zahlreichen Branchen bereits weitgehend vorangeschritten – das Gesundheitswesen hinkt nach wie vor hinterher. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat zu Beginn der aktuellen Legislaturperiode gleichsam einen Sprint vollzogen, um diesen Rückstand zumindest zu verringern. Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG), das am 19. Dezember 2019 in Kraft trat, wurden die Weichen für innovative Gesundheitsleistungen gestellt, die Deutschland weltweit in eine Vorreiterrolle bringen: Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) können offiziell von Ärztinnen und Ärzten verschrieben werden und treten somit als neuer Therapiebaustein an die Seite von Arzneimitteln und Medizinprodukten. Mit dem sogenannten DiGA-Fast-Track-Verfahren sorgte die Politik zudem dafür, dass das hohe Tempo, das sie selbst vorgelegt hat, nicht auf dem steinigen Pfad durch die Gremien der Selbstverwaltung gedrosselt wird. Gut zehn Monate nach Inkrafttreten des DVG gelangten die ersten beiden DiGA in die Erstattungsfähigkeit – für das deutsche Gesundheitswesen ist das Rekordzeit. Mittlerweile wurden 20 Anwendungen in das DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgenommen (Stand Ende August 2021).

Mehr Patientenorientierung, mehr Teilhabe am Versorgungsprozess sowie eine stärker personalisierte und individualisierte Medizin zählen zu den wichtigsten Vorteilen, die man sich von der digitalen Transformation des Gesundheitswesens verspricht. Zudem kann die Sammlung und Auswertung von Daten langfristig enorm zur Versorgungsverbesserung beitragen. Nicht zuletzt spielen die Vernetzung und die Entlastung von Leistungserbringenden eine wichtige Rolle: Denn angesichts des demografischen Wandels, der Zunahme von Multimorbidität und des Fachkräftemangels führt auch im Gesundheitswesen kein Weg daran vorbei, Effizienzgewinne mithilfe von digitalen Lösungen zu realisieren. DiGA bilden in der Gesamtstrategie eine Komponente der digitalen Transformation, die vor allem eine stärkere Einbindung der Patientinnen und Patienten unterstützen kann.

Von der Idee zur Verschreibung: Wie kommt die DiGA zum/zur Patient:in?

Zu glauben, dass die DiGA nur ein Jahr nach ihrem Markteintritt bereits breit in der Versorgung angekommen sei, wäre illusorisch. Dennoch ist zu konstatieren, dass die Verordnungszahlen der bislang zugelassenen DiGA (aktuell etwa 20.000 laut Health Innovation Hub 2021) vielfach hinter den Erwartungen zurückbleiben, die Politik und Hersteller daran geknüpft haben. Viele Start-ups mussten ernüchtert feststellen, dass zwischen „verschreibbar“ und „verschrieben werden“ eine riesige Lücke klafft. Angesichts der angespannten Finanzlage, die sich insbesondere vor dem Hintergrund der kostentreibenden Gesetzgebung der letzten Legislaturperiode sowie der Corona-Pandemie bei den Krankenkassen anbahnt, kann dies nur als Signal zum Handeln verstanden werden. Ansonsten läuft die DiGA Gefahr, im Zuge der ersten Einsparungswelle zum gut gemeinten Rohrkrepierer zu werden.


Die ersten Erfahrungen zeigen: Der Leistungsanspruch allein bringt die DiGA noch nicht zu den Patientinnen und Patienten. Der Gesetzgeber setzt einerseits auf den klassischen Distributionsweg über die ärztliche Verordnung, das Prozedere entspricht damit dem für Medikamente, Medizinprodukte oder Heil- und Hilfsmittel. Andererseits hat er einen neuen Zugangsweg über die Krankenkassen geschaffen, sodass Patientinnen und Patienten sogar ganz ohne ärztliche Intervention eine DiGA nutzen können. Für ein so vollkommen neues Versorgungselement wie die DiGA reicht es aber nicht aus, eine Reihe von Produkten auf den Markt zu bringen und auf selbstregulierende Kräfte zu vertrauen – zumal die Beharrungskräfte im Gesundheitswesen bekanntlich stark sind. Insbesondere Hausarztpraxen sind keine Institutionen, die auf schnelle Veränderungen ausgerichtet sind. Hier setzt man eher auf jahrelang eingespielte Verfahren im Behandlungsalltag. Eine DiGA kommt dort einem grundlegenden Kulturwandel gleich. Dies hat nichts mit der Qualität der DiGA zu tun – einige der besten Erfindungen von der Glühbirne bis zum Telefon waren keineswegs Selbstläufer – sie brauchten enorme Finanzkraft, Überzeugungsarbeit und kreative Vertriebsstrategien, um sich am Markt zu etablieren.

Wie muss also nachgeholfen werden, damit die DiGA ihr Potenzial tatsächlich im Versorgungsalltag entfalten kann?

gesetzlichen und privaten Krankenkassen, der stationären und ambulanten Versorgung sowie aus Politik, Selbstverwaltung, IT-Unternehmen, Pharma- und Medizintechnikindustrie (s. Abb. „Hintergrund der Studie“).

Die Ergebnisse spiegeln die Perspektive der Akteure des Gesundheitswesens wider und sind nicht repräsentativ für die deutsche Bevölkerung. Gleichwohl waren die Teilnehmenden bei einigen Fragen auch als (potenzielle) Patientinnen und Patienten angesprochen.

Hintergrund der Studie

  • Erhebung: Quantitative Befragung mithilfe des Online Fragebogen-Tools LamaPoll
  • Stichprobe: 5.009 Personen aus dem BMC-Netzwerk angeschrieben
    Rücklauf: 464 Fragebögen (Rücklaufquote 9,26%)
    Ausschluss (Ausfülldauer < 90 Sekunden*): 9 Eingeschlossene Fragebögen: 455
  • Zielgruppe: Expert:innen der Gesundheitswirtschaft aus u.a. folgenden Branchen: gesetzliche und private Krankenversicherung, ambulante und stationäre Versorgung, Politik, Selbstverwaltung, Digitalunter- nehmen, Pharma- und Medizintechnikindustrie (nicht repräsentativ für die deutsche Bevölkerung)
  • Erhebungszeitraum: Juni – Juli 2021

* Aufgrund der kurzen Ausfülldauer im Verhältnis zur Länge des Fragebogens ist in diesen Fällen davon auszugehen, dass die Fragen nicht vollumfänglich erfasst wurden.

Geschlecht

Bildungsabschluss

Arbeitgeber:innen

Alter

Prof. Dr. Volker Amelung

Prof. Dr. Volker Amelung

Volker Amelung studierte Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule St. Gallen und an der Universität Paris-Dauphine. Nach der Promotion arbeitete er an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg und war über mehrere Jahre Gastwissenschaftler an der Columbia University in New York. Heute hat er eine Schwerpunktprofessur für Internationale Gesundheitssystemforschung an der Medizinischen Hochschule Hannover inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind Managed Care und Integrierte Versorgung. Seit 2007 ist Prof. Dr. Amelung Vorstandsvorsitzender des Bundesverbandes Managed Care e.V. (BMC). Im Jahr 2011 gründete er das inav – privates Institut für angewandte Versorgungsforschung GmbH in Berlin. In dieser Funktion berät er nationale und internationale Unternehmen im Bereich Gesundheitswesen.

Johanna Nüsken

Johanna Nüsken

Johanna Nüsken ist seit Mai 2021 Geschäftsführerin des BMC. Zuvor arbeitete sie beim BKK Dachverband als Referentin Politik. Mit einem Abschluss in Public Health und Public Policy von der Universität Maastricht begann sie ihre berufliche Laufbahn als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachgebiet Gesundheitsmanagement an der TU Berlin. Zudem beriet sie bei Dr. Albrecht Kloepfer – Büro für gesundheitspolitische Kommunikation Kunden zu gesundheitspolitischen Strategien.

Melina Ledeganck

Melina Ledeganck

Melina Ledeganck ist seit April 2020 als Referentin für den BMC tätig. Sie studierte Gesundheitsökonomie in Wiesbaden und Bayreuth. Zuvor war sie in der Abteilung Methodenbewertung und Veranlasste Leistungen beim Gemeinsamen Bundesausschuss tätig und begleitete im Rahmen dessen unter anderem verschiedene Verfahren der Methodenbewertung.

Noch immer die höchsten Hürden der Digitalisierung: Datenschutz und mangelnde Akzeptanz bei den Leistungserbringenden

Die Erfolgs- bzw. Misserfolgsfaktoren der DiGA können nicht losgelöst vom Gesamtkontext der digitalen Transformation im Gesundheitswesen betrachtet werden. Befragt nach den drei größten Herausforderungen von Digital Health liegen nach wie vor die Klassiker an der Spitze: 54% sehen Datenschutz und Datensicherheit als kritisches Thema, gefolgt von der Akzeptanz der Leistungserbringenden mit 49% und der technischen Infrastruktur auf Unternehmens- und Systemebene mit 47% (s. Abb. 1).

Abb. 1 Die größten Herausforderungen von Digital Health (n = 445).
Quelle: BMC-Innovations- panel 2021

Für die meisten Gesundheitsakteure ist Datensicherheit das herausforderndste Thema im Zusammenhang mit Digital Health

Frage: Welche sind aus Ihrer Sicht gegenwärtig die größten Herausforderungen von Digital Health? Bitte wählen Sie die drei wichtigsten Herausforderungen
in Prozent

Datenschutz und Datensicherheit
0%
Akzeptanz der Leistungserbringenden
0%
technische Infrastruktur auf Unternehmens- und Systemebene
0%
regulatorische Rahmenbedingungen
0%
Finanzierung (Vergütung & Investition)
0%
Verfügbarkeit der Netzinfrastruktur
0%
Akzeptanz der Patient:innen
0%
Technikaffinität der Leistungserbringenden
0%
Technikaffinität der Patient:innen
0%
technische Ausstattung der Patient:innen
0%

Unter den Krankenkassenvertreterinnen und -vertretern kommt das Thema Datenschutz sogar auf 66%, während es bei den Teilnehmenden aus der IT- und Digital-Branche mit 41% lediglich auf Platz vier rangiert. Letztere sehen Fragen der Finanzierung (59%) und die regulatorischen Rahmenbedingungen (48%) eher als Hindernisse an.

Die Akzeptanz der Leistungserbringenden betrachten lediglich 36% derjenigen, die selbst in der Versorgung tätig sind, als Herausforderung, während alle anderen Befragten diesen Punkt deutlich kritischer sehen. Für die in der Versorgung Tätigen fallen dagegen Fragen der Finanzierung mit 38% stärker ins Gewicht. Letzteres kann auch als Hinweis auf eine Problematik gelesen werden, den die DiGA aus der Perspektive der Leistungserbringenden hat: Eine Vergütung über die reine Verschreibung hinaus ist für die Ärztinnen und Ärzte bei der DiGA derzeit nicht vorgesehen.

Dass die Patientinnen und Patienten eine Digitalisierungsbremse darstellen, glaubt übrigens kaum jemand: Deren Akzeptanz (6%), Technikaffinität (4%) und technische Ausstattung (3%) rangieren in der Liste der größten Herausforderungen von Digital Health ganz unten.

Digitalunternehmen als stärkste Treiber, Patientinnen und Patienten als größte Profiteure von Digital Health

Als stärkste Treiber der Digitalisierung im Gesundheitswesen werden mit 84% eindeutig Digitalisierungsunternehmen gesehen. Die Politik erreicht mit 57% immerhin Rang zwei, während Krankenkassen mit 40% auf Platz drei stehen. Die geringste Schubkraft geht nach Einschätzung der Befragten von den Ärztinnen und Ärzten aus (4%). Auch dieses Ergebnis liefert Hinweise auf die Gemengelage, in der die DiGA sich aktuell wiederfindet: Die Hersteller drängen mit Elan und Innovationskraft in den Markt – über ein mangelndes Angebot an DiGA braucht man sich also kaum zu sorgen. Mitgenommen werden müssen dagegen die Ärztinnen und Ärzte, die gleichsam als Flaschenhals zwischen den Herstellern und den „Endkunden“ – sprich: den Patientinnen und Patienten – fungieren.

Den größten Nutzen von Digital-Health-Lösungen verorten die Befragten klar bei den Patientinnen und Patienten (83%), mit einigem Abstand gefolgt von den Ärztinnen und Ärzten (51%). Die Leistungserbringenden selbst sehen als Profiteure allerdings eher Krankenkassen sowie IT-Unternehmen und weitere Hersteller von Digital-Health-Lösungen (im Folgenden Digitalunternehmen genannt); erst auf den Plätzen vier und fünf folgen in ihren Augen Ärztinnen und Ärzte sowie Krankenhäuser (s. Abb. 2).

Abb. 2 Abb. 2 Treiber und Profiteure von Digital Health.

Patient:innen gelten unter allen Befragten als die größten Nutznießer von Digital-Health-Lösungen

Hohe Nutzungsbereitschaft, kaum Zweifel am gesundheitlichen Mehrwert

Mit 93 % gibt fast jeder unter den Umfrageteilnehmenden an, dass sie im Rahmen der eigenen Behandlung eine DiGA nutzen würden, wenn ihre Ärztin oder ihr Arzt dies empfiehlt (s. Abb. 3). Ohne ärztliche Empfehlung können sich immerhin noch mehr als drei von vier Befragten (78%) vorstellen, eine DiGA bei ihrer Krankenkasse zu beantragen.

Abb. 3 Bereitschaft zur Nutzung einer DiGA.
Quelle: BMC-Innovationspanel 2021

Fast jeder Beschäftigte und Experte im Gesundheitswesen würde eine DiGA auf ärztliche Empfehlung hin nutzen

Wenn mein Arzt oder meine Ärztin empfiehlt eine DiGa im Rahmen der Behandlung zu nutzen, bin ich

Die wenigen, die eine DiGA-Nutzung selbst mit ärztlicher Empfehlung ablehnen, zweifeln in erster Linie am Mehrwert für die persönliche Gesundheit (77%). Hinzu kommen Bedenken hinsichtlich der Datensicherheit (50%). 27% unter den Skeptischen lehnen digitale Therapieformen prinzipiell ab, aber nur je 14% sehen technische Hürden oder mangelnde Digitalkompetenz als Haupthindernis, eine DiGA zu nutzen (s. Abb. 4).

Abb. 4 Ablehnungsgründe von DiGA.
Quelle: BMC-Innovationspanel 2021

Wer DiGA ablehnt, zweifelt vor allem an ihrem Mehrwert für die eigene Gesundheit

Frage: Aus welchen Gründen möchten Sie die DiGA nicht nutzen? (n=22, Mehrfachnennung möglich)

in Prozent

Ich sehe keinen Mehrwert für meine persönliche Gesundheit
0%
Ich habe Bedenken hinsichtlich der Sicherheit meiner Daten
0%
Ich habe kein mobiles Endgerät, um eine DiGA nutzen zu können
0%
Ich fühle mich unsicher in der Nutzung von DiGA
0%
Ich lehne digitale Therapieformen ab
0%

Fast alle Befragten (93%) stimmen der Aussage zu, dass DiGA für Patientinnen und Patienten eine gute Ergänzung der Therapie sein können, allerdings nicht unter allen Bedingungen: So sind etwa nur 77% bereit, die Daten aus der DiGA-Nutzung in die eigene elektronische Patientenakte einzubinden. Und 64% der Teilnehmenden würden zwar eine Zuzahlung von 5 EUR für eine DiGA leisten – bei 10 EUR jedoch sinkt die Zustimmung spürbar auf 47%.

Kein DiGA-Markterfolg ohne Evidenz und strukturelle Einbindung

Als wichtigste Bausteine zur Förderung der Marktdurchdringung von DiGA sehen die Befragten über alle Tätigkeitsfelder des Gesundheitswesens hinweg die Generierung und Kommunikation von Evidenz und die Aufnahme in Behandlungsleitlinien (je 58%). Zudem wählten sie die Schulung der Leistungserbringenden (45%) unter die Top-3-Maßnahmen zur Förderung der DiGA-Verbreitung (s. Abb. 5).

Abb. 5 Maßnahmen zur Förderung der DiGA-Verbreitung.
Quelle: BMC-Innovationspanel 2021

Als wichtigste Instrumente zur DiGA-Verbreitung gelten der Evidenznachweis, die Aufnahme in Behandlungsleitlinien und die Schulung der Leistungserbringenden

Frage: Wenn Sie an DiGA denken: Welche Maßnahmen müssen gefördert werden, um eine stärkere Marktdurchdringung zu erreichen? Bitte wählen Sie die drei wichtigsten Bedingungen

in Prozent

Aufnahme der DiGA in Behandlungsleitlinien
0%
Evidenzgenerierung und -kommunikation
0%
Schulung der Leistungserbringenden
0%
Einbindung der DiGA und der zugehörigen Daten in die ePA
0%
Steigerung der Digital Health Literacy der Patient:innen
0%
Einbindung weiterer Gesundheitsfachberufe
0%

Die Forderung der Befragten nach Evidenz und struktureller Einbindung erscheint schlüssig, zumal der Gesetzgeber ein Erprobungsjahr zur Evidenzgenerierung für alle DiGA vorsieht, die diesen Nachweis nicht bereits erbringen konnten. Der Wunsch nach der Aufnahme in Behandlungsleitlinien, um die jeweilige DiGA fest im Versorgungsprozess der jeweiligen Indikation zu verankern, spiegelt ebenfalls die hohe Bedeutung von Evidenz wider.

Verblüffend ist eher, dass die Zahlen für beide Maßnahmen nicht noch deutlich höher ausgefallen sind. Aufschlussreich ist hier ein Blick in die Ergebnisse der unterschiedlichen Teilnehmergruppen. Während die Evidenzgenerierung bei den Krankenkassen auf 70% der Nennungen kommt, liegt sie bei den IT- und Digitalunternehmen lediglich bei 41%. Das zeigt, dass die neuen Player im Gesundheitssystem mit dessen Regelwerk noch nicht in vollem Umfang vertraut sind: Evidenz ist die Währung der Erstattungsfähigkeit. Der Erfolg auf dem GKV-Markt abhängig vom Zusatznutzen. Dafür werden die Kostenträger die Ausgaben für DiGA in Relation zu anderen Therapieformen setzen.

Schulung der Versorgenden: der Türöffner zur DiGA-Nutzung

Dass die Schulung der Leistungserbringenden den DiGA-Herstellern wichtig erscheint, ist nachvollziehbar (52%). Schließlich sollen die Ärztinnen und Ärzte die DiGA verordnen, zudem kommt ihnen aus Sicht der Hersteller eine Multiplikatorenrolle zu. Und da die Akzeptanz unter den Leistungserbringenden ohnehin als Hürde für Digital Health gesehen wird, wäre die Hebelwirkung groß, wenn man sie über die DiGA in den digitalen Transformationsprozess stärker einbeziehen könnte.


Die Leistungserbringenden selbst halten Schulungen allerdings nur zu 38% für wichtig. Das mag dem Umstand geschuldet sein, dass DiGA-Schulungen für sie nur eine weitere Verpflichtung in ihrem ohnehin schon übervollen Terminkalender wären. Vielleicht hängt der vergleichsweise niedrige Wert aber auch damit zusammen, dass Ärztinnen und Ärzte sich selbst insgesamt nicht als Profiteure von Digital Health betrachten und ihre Bereitschaft, eine DiGA zu verschreiben, mit 63% auch nicht allzu ausgeprägt ist (Radic et al. 2021). In einer Umfrage der BARMER gaben sogar nur 42% von 1.000 befragten Ärztinnen und Ärzten an, dass sie die Möglichkeit, eine App zu verschreiben, gut oder sehr gut finden (BARMER 2020).

Das ungenutzte Potenzial: die ePA als Heimathafen der DiGA

Mehrere befragte Gruppen im Innovationspanel halten die Einbindung von DiGA und deren Daten in die elektronische Patientenakte (ePA) für einen wichtigen Hebel, um eine größere Marktdurchdringung zu erreichen. Dies erscheint folgerichtig, wenn man DiGA auf eine Ebene mit Arzneimitteln stellt: Die ePA ist der richtige Ort für die Dokumentation von therapeutischen Maßnahmen, zu denen DiGA bekanntlich zählen. Verwunderlich ist eher, dass deren Einbindung in die elektronische Akte nicht mehr Zustimmung erhält. Bei den Teilnehmenden der Pharma- und Medizintechnikindustrie votierten 49% dafür, bei den Leistungserbringenden sind es sogar nur 33%. Dieser niedrige Wert könnte allerdings auch darin begründet sein, dass die ePA bei vielen Ärztinnen und Ärzten generell kein hohes Ansehen genießt: Einerseits fehlt bisher das Vertrauen in ihren Mehrwert, andererseits fürchten viele, dass damit zusätzliche Dokumentationspflichten einhergehen.


Dabei bietet die Integration von DiGA in die ePA zahlreiche Vorteile: Sie wären besser in ein therapeutisches Gesamtkonzept eingebunden und Behandlungseffekte deutlicher erkennbar. Zudem könnte auf diese Weise ein wertvoller Pool an Versorgungsdaten entstehen, der sowohl in die Gestaltung innovativer Versorgungsmodelle als auch in einen Erstattungsbetrag für DiGA einfließen könnte. Konsequent wäre es daher, auch den Zugangsweg zu digitalen Gesundheitsanwendungen über die ePA zu gestalten und diese so als Ökosystem der Versorgung auszubauen.

Nutzenszenarien aus Sicht der Akteure erforderlich

Insgesamt zeigen die Ergebnisse des Innovationspanels, dass die DiGA in eine komplexe Gemengelage unterschiedlicher Interessen und Prioritäten hineingeboren wurde. Dass eine große Mehrheit der Befragten vom Mehrwert der DiGA für die Patientinnen und Patienten überzeugt ist, ist eine gute Ausgangsbasis. Es reicht aber nicht, um das DiGA-Konzept zum Fliegen zu bringen. Ein notorischer Webfehler unseres Gesundheitssystems ist, dass keine Nutzenszenarien aus der Perspektive der beteiligten Akteure entworfen werden. Mit anderen Worten: Es fehlt der DiGA an einem durchdachten Geschäftsmodell. Das betrifft aber nicht sie allein – Geschäftsmodelle für Innovationen sind im Fünften Sozialgesetzbuch schlicht nicht vorgesehen.

Führt man sich den Vertriebsapparat vor Augen, der bei Pharmaunternehmen in Gang gesetzt wird, um ein neues Medikament im Markt zu platzieren, wirken DiGA geradezu vernachlässigt. Es ist klar, dass die meisten Start-ups hier finanziell nicht mithalten können. Umso kreativer gilt es deshalb zu werden, um neben Patientinnen und Patienten vor allem Kostenträger und Leistungserbringende von ihrem Produkt zu überzeugen.

Die Kommunikation von Evidenznachweisen muss dabei höchste Priorität haben (vgl. Lägel 2020c). Die Aufnahme in Behandlungsleitlinien wäre darüber hinaus der Goldstandard, der auch auf Krankenkassen eine überaus beruhigende Wirkung hätte. Für die Kostenträger ist die DiGA in dem Moment interessant, in dem sie beweist, dass sie ihr Geld wert ist, weil sie zu Einsparungen an anderer Stelle führt. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn sie dazu beiträgt, Chronifizierungen zu vermeiden, Krankheitsepisoden zu verkürzen oder die Steuerung von Patientinnen und Patienten durch das System zu verbessern. Ein großes Potenzial könnten DiGA aus der Perspektive der Krankenkassen entfalten, wenn sich durch sie Versorgungsengpässe abfedern ließen, (beispielsweise im Bereich psychischer Erkrankungen) oder Übergänge von stationären in ambulante Versorgungsstrukturen nahtloser gestaltet werden könnten (etwa im Bereich Physiotherapie nach einer Reha, bei Suchterkrankungen oder bei der Etablierung von Lebensstiländerungen).

Leistungserbringende wiederum sind, wie das Innovationspanel klar gezeigt hat, bislang am schwersten von digitalen Gesundheitslösungen zu überzeugen. Also gilt: Bei aller Liebe zu den Patientinnen und Patienten sollten DiGA-Hersteller den Nutzen für die Ärztinnen und Ärzte nicht ganz aus dem Blick verlieren. Eine DiGA mag noch so beeindruckende Funktionen haben: Erzeugt sie bei den Versorgenden spürbaren Mehraufwand, streben ihre Erfolgschancen gegen Null (Wangler u. Jansky 2020). Erschwerend kommt hinzu, dass für die Verordnung einer DiGA genau wie bei Arzneimitteln und anderen Medizinprodukten keine gesonderte Vergütung vorgesehen ist. Im Umkehrschluss heißt das: Das größte Potenzial haben diejenigen DiGA, die gleichzeitig zu einer verbesserten Versorgung und zu einer Zeitersparnis für die Versorgenden führen.

Zudem müssen die Hersteller aktiv auf Ärztinnen und Ärzte zugehen und ihnen die Informationen über das Produkt mundgerecht servieren, sei es im Rahmen von Schulungen oder über traditionelle Vertriebswege: Denn digitale Kommunikation mag in den DiGA-Schmieden selbstverständlich sein – in vielen Arztpraxen ist sie es noch nicht. Dort erhalten Broschüren in Papierform, Telefonanrufe oder Vor-Ort-Besuche häufig noch immer eine höhere Aufmerksamkeit als eine E-Mail.

Aufseiten der Politik schließlich muss es zunächst darum gehen, der DiGA einen angemessenen Zeitraum zu gewähren, um ihren Nutzen unter Beweis zu stellen.

Wenn aber die DiGA in derselben Liga spielen soll wie Arzneimittel, heißt das auch, dass der Umgang damit bereits im Medizinstudium erlernt werden muss. Das Vertrauen von Ärztinnen und Ärzten in die Wirkung von Medikamenten ist auch deshalb groß, weil ihre Anwendung schon im Studium eine Selbstverständlichkeit darstellt. DiGA sollten die Chance erhalten, sich dieses Vertrauen gleichermaßen zu erwerben. Hierzu dürfen wir nicht in Legislaturperioden planen, sondern sollten eher in Ärztegenerationen denken.

Fazit

Insgesamt muss die Politik einen Wandel anstoßen, der wegführt von einem fragmentierten Einzelleistungsgeschehen hin zu einem Denken in integrierten Versorgungskonzepten und Behandlungspfaden. Modellprojekte, Best-Practice-Beispiele und nicht zuletzt die Erfahrungen aus den Innovationsfondsprojekten haben in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt: Eine gut koordinierte und stärker steuernde Versorgung, die auf das Alltagssetting und die Lebensumstände der Patientinnen und Patienten abgestimmt ist, birgt ein immenses Potenzial für den gesundheitlichen Mehrwert und die Lebensqualität. DiGA bieten hier eine große Chance, denn derzeit lässt sich kaum eine Therapieform flexibler in den Alltag einbetten als die, die man in Form des Smartphones in der Hosentasche mitführt.

Eine wichtige Strategie dürfte für die Hersteller deshalb zum einen in der Beteiligung an integrierten Versorgungsmodellen liegen. Zum anderen kann die DiGA Mehrwert „beyond“ und „around the pill“ generieren – also um die klassische Arzneimittelversorgung herum. Denn das beste Medikament ist wirkungslos, wenn es nicht zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Dosis eingenommen beziehungsweise angewendet wird (Amelung u. Ex 2019b).

Mit anderen Worten: Das Erfolgsrezept für eine zukunftsorientierte Gesundheitsversorgung, in der auch die DiGA ihren Beitrag leistet, dürfte in der Gestaltung von Wertschöpfungsketten liegen. Dieser Ansatz wird aber nur funktionieren, wenn er von neuen Finanzierungsmodellen flankiert wird, beispielsweise in Form von Bundled Payments. Eine Vergütung von definierten Episoden der Versorgung, etwa für die Diabetesversorgung innerhalb eines Fünfjahreszeitraums, bietet den Vorteil, dass die Versorgung aus individuell angepassten Bausteinen konzipiert werden kann. Das schafft Planungssicherheit bei den Leistungserbringenden und lässt gleichzeitig Raum für Innovationen, weil die Versorgenden unmittelbar von Verbesserungen partizipieren, sei es in Form von Entlastung durch bessere Prozesse oder in monetärer Hinsicht, weil Kosten eingespart werden.

Digitale Produkte stellen in solchen Szenarien unverzichtbare Bausteine dar. Sie können Wertschöpfungsketten erweitern und die einzelnen Versorgungskomponenten miteinander vernetzen. Wenn wir die DiGA in diese Versorgungslandschaft einpflanzen, wird sie gedeihen und Früchte tragen.

Quellen- und Literaturverzeichnis

Amelung VE, Ex P (2021a) Wann werden digitale Gesundheitsanwendungen erfolgreich? In: Jorzig, A., Matusiewicz, D. (Hrsg.) Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA). Rechtliche Grundlagen, innovative Technologien und smarte Köpfe. 125–134. Medhochzwei Heidelberg

Amelung VE, Ex P (2021b) Ohne Geschäftsmodelle fliegt Digital Health nicht. Frankfurter Allgemeine Zeitung. URL: https://www.faz.net/asv/die-zukunft-der-medizin-ist-digital/ohne-geschaeftsmodelle-fliegt-digital-health-nicht-16473677.html (abgerufen am 15.09.2021)

BARMER (2020) BARMER-Umfrage zu Gesundheits-Apps – Ärzte stehen digitalen Helfern offen gegenüber. URL: https://www.barmer.de/presse/presseinformationen/pressemitteilungen/barmer-umfrage-zu-gesundheits-apps—aerzte-stehen-digitalen-helfern-offen-gegenueber-247444 (abgerufen am 15.09.2021)

Brönneke JB, Debatin JF, Hagen J, Kircher P, Matthies H (2020) DiGA Vademecum. Was man zu Digitalen Gesundheitsanwendungen wissen muss. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Berlin

Health Innovation Hub (2021) Ein Jahr DiGA Fast Track – Wo stehen wir und was kommt? URL: https://hih-2025.de/gesundheit_digital-meilensteine-fuer-eine-digitale-medizin/ (abgerufen am 15.09.2021)

Lägel R (2020a) DVG, DiGAs und ein Blick über den deutschen Tellerand – Zum Status quo der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Gesundheitsforen Trend-Dossier

Lägel R (2020b) App auf Rezept. Market Access & Health Policy 04/20: 28–31

Lägel R (2020c) So kommen Apps in die GKV-Erstattung. Market Access & Health Policy 02/20: 26–28

Lägel R, Amelung VE (2019) Das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) – Herausforderung und Chance für die pharmazeutische Industrie? Market Access & Health Policy 06/19: 29–31

Radic M, Brinkmann C, Radic D (2021) Digitale Gesundheitsanwendungen auf Rezept: Wie steht es um die Akzeptanz in der Ärzteschaft? Fraunhofer-Zentrum für Internationales Management und Wissensökonomie IMW. URL: https://www.imw.fraunhofer.de/content/dam/moez/de/documents/210303_Studie_Digitale Gesundheitsanwendungen auf Rezept_DiGAs.pdf (abgerufen am 15.09.2021)

Wangler J, Jansky M (2020) Welchen Nutzen bringen Gesundheits-Apps für die Primärversorgung? Ergebnisse einer Befragung von Allgemeinmedizinern. Prävention und Gesundheitsförderung, 16(2), 150–156. DOI: https://doi.org/10.1007/s11553-020-00797-7 (abgerufen am 15.09.2021)