Die Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland schreitet voran. Vor allem die Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie haben die Entwicklung beschleunigt: Da Patient:innen seither zunehmend digitale Angebote nachfragen und nutzen, haben Gesetzgeber, Kostenträger und Leistungserbringer erste Grundlagen für digitale Gesundheitslösungen geschaffen. Die elektronische Patientenakte (ePA) soll hierbei – neben weiteren Anwendungen wie E-Rezept oder elektronischer Medikationsplan – das Fundament bilden für die künftige digitale Gesundheitsversorgung in Deutschland.
Doch wie stabil ist dieses Fundament und wo gibt es Ausbaubedarf? Wie steht es um die aktuelle Nutzung und den Nutzen der Anwendungen? An welchen Vorbildern können sich die Akteure orientieren und was sind die Erfolgsfaktoren, die den wichtigsten digitalen Gesundheitslösungen in Deutschland zum Durchbruch verhelfen können? Erste Antworten darauf liefert der nachfolgende Überblick mit aktuellen Daten und Fakten rund um das Thema ePA, E-Rezept & Co.
Seitens der Leistungserbringer jedenfalls sind die technischen Voraussetzungen zur Nutzung der ePA größtenteils gegeben: Bereits im Herbst 2021 waren laut aktuellem PraxisBarometer Digitalisierung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) rund 90% der Arztpraxen an die TI angeschlossen – auch infolge drohender Honorarkürzung bei Nichtanbindung. Allerdings mangelt es zumindest in Krankenhäusern noch vielfach an der erforderlichen Zusatzausstattung, wie das Ärzteblatt berichtet: Nur rund jede dritte Klinik (36%) besitzt bereits den eHBA, der zur Nutzung der ePA notwendig ist; in den ambulanten Arztpraxen sind es immerhin schon fast drei Viertel (73%).
Eine weitere Skalierung der ePA aber ist dringend geboten. Denn mit wachsenden Nutzer- und Nutzungszahlen steigt zugleich der Mehrwert solcher TI-Anwendungen. Und es warten gewaltige Nutzenpotenziale darauf, gehoben zu werden: Eine neue Studie von McKinsey (vgl. S. 125) beziffert den Gesamtnutzen der digitalen Gesundheitstechnologien, der sich vor allem aus Einsparungen durch Produktivitätssteigerungen ergibt, mit aktuell 42 Mrd. EUR pro Jahr – eine Steigerung um fast ein Viertel gegenüber 2018. Ein Großteil dieses Potenzials (8 Mrd. EUR) entfällt dabei auf die ePA und das E-Rezept, wobei die ePA mit geschätzten 7 Mrd. EUR den mit Abstand größten potenziellen Nutzen aufweist.
Was genau macht diese TI-Anwendungen so wertvoll? Als Grundlagentechnologien (sogenannte Enabler-Technologien) haben ePA und E-Rezept einen Ausstrahlungseffekt auf andere digitale Lösungen – der indirekte Nutzen daraus wird auf bis zu 23 Mrd. EUR pro Jahr beziffert (s. Abb. 3). Grund hierfür ist, dass zahlreiche Gesundheitslösungen eine ePA oder ein E-Rezept benötigen, um ihr volles Nutzenpotenzial zu entfalten. Bei der Telekonsultation beispielsweise ermöglicht die ePA eine effektivere Betreuung, da die Ärztin die bisherige Krankheitshistorie und aktuelle Medikation eines Patienten einsehen kann, auch wenn sie ihn vorher noch nicht behandelt hat.
Noch allerdings steht die Realisierung des Nutzenpotenzials ganz am Anfang, da die neuen Technologien erst in geringem Umfang genutzt werden: Schätzungsweise weniger als 300 Mio. EUR konnten bislang durch die ePA gehoben werden, hauptsächlich durch ihren Einsatz im stationären Bereich. Abhilfe kann hier nur konsequente Skalierung schaffen. Erst wenn TI-Anwendungen faktischer Standard in jeder Arzt-Patienten-Interaktion sind, wird der Nutzen für alle sichtbar und immer mehr Menschen lassen sich von den neuen Technologien überzeugen.
Bis zum endgültigen Durchbruch aber stehen noch einige Aufgaben an. Zunächst geht es darum, alle Beteiligten in das digitale Ökosystem einzubinden und so die Basis für einen Anstieg der Anwenderzahlen zu legen. Gleichzeitig müssen Funktionalitäten und weitere digitale Dienste bereitgestellt werden, die echten Mehrwert schaffen. Kurz: Es gibt viel zu tun, doch am Ende werden sich die Anstrengungen auszahlen. Denn erst der Dreiklang aus Nutzenden, Nutzung und Nutzen bringt den Erfolg: Nur mit einer kritischen Masse an Nutzenden und aktiver Nutzung können die TI-Anwendungen ihren substanziellen Nutzen für das Gesundheitssystem entfalten – und so wesentlich dazu beitragen, das „quadruple aim“ zu erreichen: höhere Versorgungsqualität, größere Kosteneffizienz, ein verbessertes Patientenerlebnis und nicht zuletzt optimierte Arbeitsbedingungen für das Personal.
Quellen- und Literaturverzeichnis
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