Whitepaper:
Real World Evidence

Manuel Heurich und Anne Demond

Als Real World Evidence (RWE) bezeichnet man die gewonnenen medizinischen Erkenntnisse, die aus Beobachtungsstudien und der Darstellung der Versorgungsrealität mit Massendatenquellen (Big Data) gewonnen werden (Behrendt 2019). Sie erlauben im Gegensatz zu randomisierten klinischen Studien häufig eine höhere Generalisierbarkeit (externe Validität) (Ziemssen et al. 2017). Die interne Validität hingegen ist bei der Real World Evidence im Vergleich zu klassischen randomisierten klinischen Studien (interventionelle Studien) als geringer anzusehen, da im Vorfeld der Studien bzw. Beobachtungen keine geplanten Eingriffe (Interventionen) erfolgen, um mögliche Verzerrungen auszuschließen (Vogelmann 2019).

Die Erkenntnisse aus der täglichen Praxis von den Diagnosen bis zur Therapie und der hierfür verwendeten Infrastruktur, der eingesetzten Medizinprodukte und Arzneimittel können als sehr hoch eingestuft werden. Sie liefern wichtige Informationen aus dem realen Alltag. Besonders wertvoll ist die RWE dann, wenn sie auf Basis sehr großer Datenmengen (Big-Data-Analysen) erhoben werden. Die RWE-Daten sollten nicht als Konkurrenz oder Ersatz von klassischen klinischen Studien verstanden werden, sondern vielmehr als werthaltige Ergänzung (Habs et al. 2023). „Real-World-Evidenz hat bereits einen festen Platz in der evidenzbasierten Medizin“, so Dr. C.-A. Behrendt von der Universitätsklinik Hamburg.

Einsatzgebiete und Funktionen von Real World Evidence

Ergänzung interventioneller klinischer Studien durch Real World Evidence

Für klinische Anwender bieten RWE-Daten die Möglichkeit, interventionelle klinische Studien zu ergänzen, um die externe Validität von vergleichsweise kleinen Samples bei interventionellen Studien durch die Ergebnisse von RWE-Daten zu erhöhen. Retrospektive Analysen von großen Datenmengen zu spezifischen Themengebieten können hierdurch die Ergebnisse von interventionellen klinischen Studien untermauern oder auch hinterfragen (Habs et al. 2023; Friede et al. 2023).

Sehr gut geeignet für eine derartige Datenanreicherung sind Studien, die den Einsatz bestimmter Therapieverfahren untersuchen, die im Rahmen der Dokumentation von Routinedaten von den Kliniken ohnehin erhoben werden müssen (Schneeweiss 2023). Darüber hinaus können Untersuchungen, die auf demografische Einflussfaktoren wie Altersgruppen oder Nebenerkrankungen abzielen, durch RWE-Daten ergänzt werden.

Beispielsweise könnten Untersuchungen des Einflussfaktors von Diabetes in einer bestimmten Altersgruppe auf die Behandlung bestimmter Hauptdiagnosen sehr gut unterstützt werden. Hierbei kann versucht werden, den Studienbedingungen durch eine Datenbereinigung möglichst nah zu kommen, oder es können bewusst die „echten“ klinischen Bedingungen zu untersucht werden.

Nutzenbewertung von Medizinprodukten und Methoden

Der Bundesverband Medizintechnolgie (BVMed) fordert bereits seit geraumer Zeit, dass RWE stärker in die Nutzenbewertung von MedTech-Methoden miteinbezogen werden. „Datenquellen, die die tatsächliche Versorgungssituation abbilden, müssen zukünftig bei der MedTech-Methodenbewertung berücksichtigt werden“, so BVMed-Geschäftsführer Dr. Marc-Pierre Möll zur Stellungnahme des MedTech-Verbandes zum Entwurf des allgemeinen Methodenpapiers Version 6.0 des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) (BVMed 2024). Das IQWiG greift bei der Nutzenbewertung hauptsächlich auf randomisiert kontrollierte Studien (RCTs) zurück. Viele Experten betrachten die RWE-Daten allerdings als wertvolle Ergänzung und fordern bei der Bewertung von Medizinprodukten und Methoden eine Kombination aus RCTs und Real-World-Trials.

Die Nutzenbewertung von Medizinprodukten ist kein einfaches Unterfangen, weshalb die Datenquantität und auch die Vielfalt eine große Rolle spielen. Hierdurch können qualitative sowie ökonomische Nutzenbewertungen durchgeführt werden. Beispielsweise können in interventionellen medizinischen Fachgebieten wie der Kardiologie oder der Unfallchirurgie die Auswirkungen des Medizinprodukteeinsatzes sehr gut über RWE-Daten untersucht werden. So könnte etwa der Einsatz eines neuen Hüftimplantates, das im Rahmen einer neuen chirurgischen Methode implantiert wird, gut über die sogenannten Prozedurencodes identifiziert und dieses Patientenklientel im Anschluss analysiert werden. Hierbei sind Analysen von klinischen Parameter (Verweildauer, Komplikationen, Bluttransfusionen, Intensivstationsaufenthalte) ebenso möglich wie ökonomische Parameter, die aus den klinischen Parametern resultieren. Wenn eine Gruppe von Patienten, die mit einem neuen Implantat versorgt werden, das durch eine neuartige Methode implantiert wird, eine schnellere Rekonvaleszenz aufweist, kann dies qualitativ und ökonomisch bewertet werden.

Viele Experten betrachten die RWE-Daten allerdings als wertvolle Ergänzung und fordern bei der Bewertung von Medizinprodukten und Methoden eine Kombination aus RCTs und Real-World-Trials.

Ermittlung von Zielpopulationen für LifeScience Unternehmen im Rahmen des AMNOG Verfahren

Im Rahmen der frühen Nutzenbewertung (FNB) von Arzneimittel-Innovationen ist es für LifeScience Unternehmen von großer Bedeutung, die Zielpopulation bzw. das epidemiologische Marktpotenzial, das mit dem neuen Medikament versorgt werden kann, zu evaluieren. Neben der Bedeutung für die FNB kann das Marktpotenzial auch für strategische Entscheidungen von LifeScience Unternehmen von großer Relevanz sein.

Diese zwei Ansatzpunkte können mit RWE-Daten unter zusätzlicher Anwendung statistischer Methoden ebenfalls beantwortet werden. Beispielsweise liefern strukturierte Falldatensätze der Krankenhäuser gute Einblicke in das epidemiologische Aufkommen in Kliniken. Hierbei stehen nicht nur klinische Hauptdiagnosen, sondern insbesondere Nebendiagnosen von Patienten im Vordergrund, die von bestimmten Arzneimitteln profitieren können. Das epidemiologische Gesamtmarktpotenzial kann über statistische Verfahren auf Basis großer Stichproben sehr valide erhoben werden. Ferner können diese Daten auch auf den ambulanten Markt angewendet werden, solange es sich bei den Nebendiagnosen nicht um im Krankenhaus erworbene Diagnosen handelt. Der Nutzen dieser RWE-Daten kann aus diesem Gesichtspunkt als sehr hoch eingeschätzt werden.

Neben der Bedeutung für die FNB kann das Marktpotenzial auch für strategische Entscheidungen von LifeScience Unternehmen von großer Relevanz sein.

Benchmarking für Anwender und Hersteller

Benchmarking ist in der Regel nicht der erste Gedanke, den man mit RWE verbindet. Doch in der Praxis spielt dieser Bereich eine immer wichtigere Rolle. Hierbei sollten die Kerngedanken des Benchmarkings in den Fokus der Betrachtung gerückt werden. David Kearns beschreibt den Begriff „Benchmarking-Konzept“ als einen fortlaufenden Prozess, um Produkte und Dienstleistungen mit den stärksten Mitbewerbern zu messen und zu steuern (Ettorchi-Tardy et al. 2012). Die Orientierung an den Besten in einem spezifischen Gebiet ermöglicht, die eigene Zielsetzung zu hinterfragen und von den besten Prozessen und Strukturen lernen zu können.

Wendet man diese Begriffsdefinition auf die RWE im klinischen Alltag an, entstehen großartige Möglichkeiten die klinischen Outcomes durch RWE zu verbessern. Klinische Bereiche wie zum Beispiel die Prävention vor nosokomialen Infektionen, der Vergleich chirurgischer Verfahren, der Wirkungsgrad von Arzneimitteln, oder gesamte klinische Pfade können durch das Benchmarking mit RWE-Daten verbessert werden. Ein klinischer Anwender hat die Möglichkeit seine klinischen Outcomes in spezifischen Gebieten mit anderen Kliniken zu vergleichen, um festzustellen, wie seine Performance im Vergleich zur Peer Group ist. Befindet er sich nicht unter den Besten kann er aktiv nach Schwachstellen im klinischen Prozess, bei Medizinprodukten oder Arzneimitteln suchen, um die Outcomes auf das Niveau der Besten zu heben.

Tab. 1 Vorteile und Limitationen von Real World Evidence (nach Ziemssen et al. 2017)

Die Bedeutung und die Vorteile von RWE sind groß (s. Tab. 1). Diese auch zur Entfaltung zu bringen und in den klinischen Alltag zu integrieren ist eine Herausforderung, die mit intelligenten RWE-Analyseplattformen gelöst werden kann. Hierzu haben wir von der BinDoc GmbH mit dem BinDoc Cube eine webbasierte Plattform entwickelt, die den Usern einen hohen Nutzen durch innovative Analysemöglichkeiten verspricht.

Die Datenbasis der Plattform bilden klinische Routinedatensätze, die beliebig modelliert und auch mit eigenen klinischen Daten verglichen werden können. Hierbei bedienen wir uns einer multidimensionalen Analyse, die wie ein Würfel individuell zusammengestellt werden kann. Neben vordefinierten Analytics-Dashboards können vollständig individuelle Dashboards erstellt werden. Im Rahmen der multidimensionalen Analysen (s. Abb. 1) stehen mehr als eine Trillion Variablenkombinationsmöglichkeiten für über 20 Mio. anonymisierte Patientendatensätze zur Verfügung (Stand Juni 2024).

Abb. 1 Real-World-Datenanalyse-Prozess

(1) Kombinatorik: Im ersten Schritt erfolgt die Auswahl der klinischen, ökonomischen oder prozessualen Parameter, die im Rahmen der Analyse ausgewertet oder modelliert werden sollen. Hierbei können die einzelnen Variablen durch Filter-, Gruppierungs- und Aggregationsmöglichkeiten multidimensional modelliert werden.

  • Beispiel 1: Es können Patientenkohorten bestimmter Altersgruppen und Geschlechter während der Covid- Pandemie auf das akute Atemnotsyndrom (ARDS) analysiert werden, um zu prüfen, ob bestimmte Vorerkrankungen (Nebendiagnose) zu schwereren klinischen Verläufen (Inanspruchnahme Intensivstation, Beatmung, klinische Verweildauer) führen, oder wie sich die Outcomes in Bezug auf die Sterblichkeitsrate, Beatmungsdauer und Schweregrade entwickeln.
  • Beispiel 2: Es könnten Patientenkohorten selektiert werden, die im Rahmen einer Implantation einer Hüftendoprothese in Abhängigkeit der angewendeten OP-Technik unterschiedliche klinische Outcomes aufweisen.

(2) Big Data-Analyse: Die definierten Filter, Gruppierungen und Aggregationen werden im Rahmen einer Big Data-Analyse in der Datenbank ausgewertet. Hierbei werden große Mengen an Datensätzen in wenigen Sekunden nach dem ausgewählten Modell analysiert.

(3) Ergebnisdarstellung: Die Ergebnisse werden innerhalb weniger Sekunden im Dashboard als Charts und Tabellen dargestellt und können mit beliebigen Anwendern geteilt werden.

(4) Generalisierung: Die Ergebnisse können im letzten Schritt von der Stichprobe auf die Gesamtpopulation anhand einer hinterlegten Bevölkerungsstruktur generalisiert und auch in die Zukunft projiziert werden.

Klinische Evidenz aus Real-World-Daten

Methodisches Vorgehen

Potenzielle RWE-Ergebnisse

Literatur

Behrendt CA (2019) Was ist die Realität hinter der Real-World-Evidenz? Gefässchirurgie 24, 7–8

Bernauer E, Alebrand F, Heurich M (2023) Same but Different? Comparing the Epidemiology, Treatments and Outcomes of COVID-19 and Non-COVID-19 ARDS Cases in Germany Using a Sample of Claims Data from 2021 and 2019. Viruses 2023, 15(6)

BVMed (2024) Real-World-Evidenz bei der Nutzenbewertung von MedTech-Methoden beachten. URL: https://www.bvmed.de/verband/presse/pressemeldungen/real-world-evidenz-bei-der-nutzenbewertung-von-medtech-methoden-beachten (abgerufen am 26.07.2024)

Ettorchi-Tard, A, Levif M, Michel P (2012) Benchmarking: a method for continuous quality improvement in health. Healthcare policy = Politiques de sante 7(4), e101–e119

Friede T, Röver C, Mathes T (2023) Verknüpfung von randomisierten kontrollierten Studien und Real World Data. Prävention und Gesundheitsförderung. URL: https://doi.org/10.1007/s11553-023-01016-9 (abgerufen am 26.07.2024)

Greifer N (2023) Assessing Balance. URL: https://cran.r-project.org/web/packages/MatchIt/vignettes/assessing-balance.html (abgerufen am 26.07.2024)

Greifer N, Stuart EA (2021) Choosing the causal Estimand for propensity score Analysis of observational studies (arXiv:2106.10577), URL: http://arxiv.org/abs/2106.10577 (abgerufen am 26.07.2024)

Habs M, Dingermann T, Bachmeier BE et al. (2023) Real World Evidence (RWE) in der Phytotherapie. Zeitschrift für Allgemeinmedizin 99, 182–189. URL: https://doi.org/10.1007/s44266-023-00021-7 (abgerufen am 26.07.2024)

Schneeweiss, S. (2023) Von Real-World-Daten zur Real-World-Evidenz: eine praktische Anleitung. Prävention und Gesundheitsförderung. URL: https://doi.org/10.1007/s11553-023-01026-7 (abgerufen am 26.07.2024)

Slagman A, Hoffmann F, Horenkamp-Sonntag D et al. (2023) Analyse von Routinedaten in der Gesundheitsforschung: Validität, Generalisierbarkeit und Herausforderungen. Z Allg Med 99, 86–92. URL: https://doi.org/10.1007/s44266-022-00004-0 (abgerufen am 26.07.2024)

Vogelmann T (2019) Evidence Generation: Wie können Sie mit Real World Evidence Ihren Marktzugang erfolgreicher gestalten? In: Schubert T, Vogelmann T (Hrsg.) Market Access in der Medizintechnik, 249–281. Springer Fachmedien Wiesbaden

Ziemssen T et al. (2017) Real-world-Evidenz. Nervenarzt 88, 1153–1158

Über BinDoc

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Autor:innen

Manuel Heurich

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