Die nächste Revolution
in der Medizin
Jens Baas und Dennis Chytrek

Die Autoren

Dr. Jens Baas

Jens Baas ist seit 2012 Vorsitzender des Vorstands der Techniker Krankenkasse (TK). Vor seiner Zeit als Vorstandsvorsitzender war er bei der Unternehmensberatung Boston Consulting Group tätig, zuletzt als Partner und Geschäftsführer. Sein Studium der Humanmedizin absolvierte Jens Baas an der Universität Heidelberg und der University of Minnesota (USA). Er arbeitete anschließend als Arzt in den chirurgischen Universitätskliniken Heidelberg und Münster.

Dennis Chytrek

Dennis Chytrek ist seit 2019 persönlicher Referent des Vorstandsvorsitzenden der Techniker Krankenkasse (TK). Zuvor war er als stellvertretender Pressesprecher und Pressereferent in der Unternehmenskommunikation der TK tätig. Er hat sein Studium der Politik und Rechtswissenschaften in Hamburg und Schweden absolviert. Bevor er zur TK ging, war er unter anderem als freier Journalist und Berater bei einer Unternehmensberatung für Gesundheitskommunikation tätig.

Künstliche Intelligenz als Basis für die nächste medizinische Revolution

Eine Revolution ist eine radikale Veränderung oder ein grundlegender struktureller Wandel. Mit dem Fortschreiten der wissenschaftlichen Erkenntnis hat es in der Medizin mehrere revolutionäre „Meilensteine“ gegeben. Erfindungen wie das Stethoskop, die Einführung der Hygiene, die Entdeckung des Penicillins, Impfungen, Narkosen, die moderne Gerätemedizin und Pharmakologie haben unsere Lebensqualität und Lebenserwartung kontinuierlich verbessert.

Wie schnell sich die Medizin verändert und der Fortschritt vorankommt, lässt sich gut anhand des Humangenomprojekts veranschaulichen, mit dem erstmals das Genom eines Menschen vollständig entschlüsselt werden sollte. Das Projekt wurde 1990 begonnen und hat mehrere Millionen Dollar gekostet, bis es 2003 beendet wurde beziehungsweise in Nachfolgeprojekte aufging. Die letzten Lücken wurden 2018 geschlossen. Heute gelingt die Sequenzierung eines menschlichen Genoms in wenigen Tagen und kostet nur einige hundert Dollar, und dieser Preis wird absehbar noch deutlich weiter sinken (Rendtorff 2013, S. 16).

Am Horizont zeichnet sich nun jedoch eine Veränderung ab, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen könnte: die Nutzung und Auswertung großer Mengen von Daten mittels Künstlicher Intelligenz (KI). Überträgt man die Möglichkeiten, die KI bereits heute oder in naher Zukunft in anderen Bereichen leistet, auf die Medizin, so kann man fast sicher sein, dass die nächste medizinische Revolution KI-basiert sein wird oder auf Ergebnissen beruht, die mit der Hilfe von KI generiert wurden.

Wie sie es in anderen Bereichen getan hat, wird KI auch die Medizin revolutionieren.

KI wird in der Medizin beziehungsweise im Gesundheitswesen bereits in vielen Feldern angewendet. Vor allem im Bereich der bildgebenden Diagnostik hat KI schon früh zeigen können, dass sie Bilder gleich gut – oder sogar besser – analysieren kann wie ein Mensch (Seebach et al. 2021, S. 277). Nachfolgend werden in diesem Kapitel anhand eines groben Versorgungspfades exemplarisch fünf Felder beleuchtet und untersucht, wie KI bereits heute oder in naher Zukunft eingesetzt werden kann und welche radikalen, grundlegenderen, also revolutionären Veränderungen sich daraus ergeben können. Anschließend wird die Rolle der Krankenkassen betrachtet, die neben den Leistungserbringern, auch durch die Einführung der elektronischen Patientenakte, eine zentrale Rolle im deutschen Gesundheitswesen einnehmen werden.

Prävention

Häufig wird das Gesundheitssystem dafür kritisiert, dass die Menschen erst behandelt werden, wenn sie krank sind. Eigentlich müsste bereits vor dem Entstehen einer Krankheit mittels Prävention eben dieser vorgebeugt werden. Was aus individueller Sicht absolut logisch klingt, ist gesellschaftlich jedoch ein Minusgeschäft.

Damit Präventionsangebote Wirkung erzeugen, müssen sie sehr breit angelegt und beworben werden. Es werden also viele Ressourcen allein dafür benötigt, dass die Menschen die für sie passenden Angebote wahrnehmen und dafür motiviert werden, sie zu nutzen. Bislang ist es zudem so, dass Angebote häufig von jenen genutzt werden, die sich bereits risikobewusst verhalten: Diejenigen, die bereits auf ihre Ernährung achten, sind also empfänglicher für Präventionsangebote im Bereich Ernährung als jene, die aus gesundheitlichen Gründen dringend ihr Essverhalten ändern müssten (Cohen et al. 2008; Franzkowiak 2022).

Bewegungsmuster, Blutdruck oder Herzfrequenz können schon heute automatisch ausgewertet werden. Wenn noch Diagnosen hinzukommen, wie in heutigen Disease-Management-Programmen, und gar Laborwerte, ist im nächsten Schritt die Auswertung durch eine KI möglich. Diese kann dann individuell konkrete Maßnahmen vorschlagen.

Wenn, mit Erlaubnis der Versicherten, anhand von Daten das individuelle Risiko bestimmt werden könnte und daraufhin ganz gezielt Präventionsangebote unterbreitet werden, würde das die oben beschriebene Problematik grundlegend ändern. Dann wäre es erstmals möglich, auch sehr teurere Präventionsmaßnahmen anzubieten und durchzuführen, ohne dass die Kosten aus dem Ruder laufen bzw. nicht mehr im Verhältnis zum Ergebnis stehen.

Und noch eine weitere mögliche Revolution steht im Bereich der Prävention an. Mit Blick auf das oben beschriebene Humangenomprojekt und die immer weiter sinkenden Kosten ist es nicht unwahrscheinlich, dass viele Menschen in Zukunft ihr Genom ausgewertet und die Informationen in einer Datenbank gespeichert haben werden. Dabei liegt die eigentliche Revolution nicht in der Sequenzierung des Genoms selbst, sondern in der Auswertung der Daten. Bislang macht ein Großteil der Arbeit nicht etwa das eigentliche Entschlüsseln der DNS aus, sondern vor allem der Abgleich mit den Datenbanken, also die halb-analoge Auswertung. Es braucht keine große Vorstellungskraft, um sich auszumalen, dass auch diese Arbeit in Zukunft maschinell unterstützt und zu einem Großteil von einer KI erledigt werden kann, und das in einem Bruchteil der bisherigen Zeit.

Durch Genomanalysen lassen sich Wahrscheinlichkeiten für das Auftreten bestimmter Erkrankungen bis zu 100% errechnen. Ärztinnen und Ärzte können die Betroffenen vorwarnen, dass ein bestimmtes medizinisches Ereignis mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreffen wird, und Maßnahmen einleiten, lange bevor die ersten Symptome auftreten – zum Beispiel eine enge Überwachung oder besondere Präventionsmaßnahmen. Durch Abgleiche von großen Datenmengen können zudem wertvolle Erkenntnisse über seltene Erkrankungen oder zukünftige Therapien erlangt werden.

Nur exemplarisch sei hier angeführt, welche Probleme einer solchen Nutzung derzeit noch entgegenstehen. Nahezu jeder Arztbesuch wird heute digital erfasst und dokumentiert, die Diagnosedaten zur Abrechnung werden an die Kassenärztlichen Vereinigungen weitergeleitet. Den Krankenkassen liegen diese Daten dann jedoch erst mit einer Verzögerung von mehreren Wochen oder gar Monaten vor. Eine quartalsweise Abrechnung hatte im Zeitalter der Bundespost seine Berechtigung, im Informationszeitalter der Gegenwart kann das nur als Anachronismus angesehen werden und ist längst nicht mehr zu rechtfertigen. Richtige Prävention muss schon früher ansetzen. Wenn Daten vorliegen (Diagnosen, Medikamente), die zum Beispiel auf ein Rückenleiden hindeuten, kann mit Präventionsmaßnahmen eventuell eine Operation vermieden werden. Liegen die Daten jedoch erst ein halbes Jahr später vor, ist es gegebenenfalls zu spät.

Diagnostik

Selbst die beste Prävention wird nicht verhindern können, dass auch in Zukunft Menschen in Praxen und Krankenhäusern behandelt werden müssen. In den vergangenen Jahren wurden die Möglichkeiten der modernen Medizin kontinuierlich ausgebaut und verbessert. Weiterhin werden auf diesem Gebiet, analog zu anderen technischen Entwicklungsfeldern, bessere Geräte entwickelt werden, die zum Beispiel eine höhere Auflösung haben, mehr Funktionen erhalten oder weniger invasiv sind.

Vor allem werden diese Geräte aber mehr Daten erheben, auswerten und miteinander vernetzen. Wie bereits beschrieben, ist die maschinelle Auswertung von bildgebender Diagnostik heute durch Einsatz von KI genauer und schneller als die menschliche. Mittlerweile beschränkt sich diese Auswertung auch nicht nur auf die reinen Bilddaten, sondern umfasst auch weitere Informationen aus der Anamnese. Was früher der Arzt oder die Ärztin in den Kontext bringen musste, wird also ebenfalls von einer KI übernommen. Zum Beispiel ist eine Lungenläsion bei einem Menschen, der in der Stadt lebt und 20 Jahre Raucher ist, anders zu bewerten als bei einem Nichtraucher, der an der Nordseeküste beheimatet ist. An dieser Stelle ist die KI dem Menschen also bereits mindestens ebenbürtig (Formica-Schiller 2021, S. 53).

In der bildgebenden Diagnostik
ist KI bereits schneller und genauer als ein Mensch.

Ob sich auf diesem Gebiet eine neue medizinische Revolution abzeichnet, lässt sich aus heutiger Sicht nicht abschätzen. Interessant sind Forschungsansätze mit molekularen Biomarkern, die es in Zukunft vielleicht ermöglichen, Krankheiten in einem sehr frühen Stadium zu erkennen und entsprechend früh mit einer Therapie zu beginnen (Wiltfang et al. 2024).

Therapien

Je nach Fall und Fachgebiet können Therapien heute wesentlich komplexer und individueller sein, als das noch vor ein paar Jahren der Fall war. Tagtäglich gibt es weltweit so viele wissenschaftliche Veröffentlichungen auf dem Fachgebiet der Medizin, dass es für Ärztinnen und Ärzte unmöglich ist, immer auf dem neuesten Stand zu bleiben – unabhängig davon, wieviel Zeit sie in ihre Fortbildung investieren und unabhängig davon, wie eng ihr Fachgebiet ist. Sowohl im Krankenhaus als auch in der Praxis kann ein KI-basiertes Wissensmanagement die Ärztinnen und Ärzte dabei unterstützen, Diagnosen zu stellen und Therapien durchzuführen, die auf dem aktuellen Stand sind und den Leitlinien entsprechen.

Als revolutionär kann man die Fortschritte bezeichnen, die in der Pharmaindustrie dank Daten und KI möglich werden. Die Möglichkeiten der Simulation von Proteinfaltungen ist revolutionär für die Entwicklung neuer Medikamente. Gelingt es, die Mechanismen der Fehlfaltung von Proteinen zu verstehen, können neue gezielte Therapieverfahren, z.B. bei Alzheimer-Demenz, Morbus Parkinson oder Mukoviszidose, entwickelt werden. Bisher stützte sich die Forschung vor allem auf konfokale Mikroskopie und andere aufwändige Verfahren. „Trial-and-Error“-Strategien sind jedoch mit hohem Zeit , Kosten , und Ressourcenaufwand verbunden. KI ist bereits heute in der Lage, die 3D-Struktur eines Proteins allein auf der Grundlage seiner genetischen Sequenz vorherzusagen, was die Forschung dramatisch beschleunigt. Die erzeugten 3D-Modelle sind bei Weitem präziser als alle bisherigen Simulationen (Wolfangel 2022, S. 127ff.).

Auch in der Herstellung von Implantaten wird sich durch ein immer größeres Verständnis von Bioschnittstellen sowie Miniaturisierung in den nächsten Jahren einiges tun. Dass einige Gehörlose mithilfe eines Cochlea-Implantats wieder hören können, ist fraglos eine medizinische Revolution (Carlson 2020). Ebenfalls lösen die Möglichkeiten, die die Pharmaindustrie seit Kurzem durch das gezielte Schneiden von Genen mit CRISPR-Cas9 hat, einen Quantensprung in der Pharmakologie aus. Die Bedeutsamkeit des Verfahrens erkannte das Nobelpreis-Komitee und ehrte die beiden Erfinderinnen 2020 mit einer Auszeichnung (The Nobel Prize 2020).

Dokumentation

Medizin ist komplex. Das Resultat ist oft, dass es zwischen Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen und Patienten zu Kommunikationsproblemen kommt. Auf der einen Seite studiertes Fachpersonal unter Zeitdruck und auf der anderen Seite medizinische Laien, die oftmals in einer Ausnahmesituation sind und unter psychischem Stress stehen.

Im November 2022 hat ChatGPT weiten Teilen der Bevölkerung eindrucksvoll gezeigt, wie weit die KI mittlerweile ist und was mit dem Einsatz von großen Sprachmodellen (LLM) möglich ist. Natürlich ist diese Technik dafür prädestiniert, auch medizinisch komplexe Sachverhalte in eine einfachere, nicht-wissenschaftliche/ fachliche Sprache umzuformulieren. Zudem arbeiten Übersetzungsprogramme heute schon so zuverlässig, dass auch die Sprachbarrieren in absehbarer Zukunft keine Hindernisse mehr darstellen werden. Es wird kein Problem sein, die Informationen statt in einfacher deutscher Sprache auch auf Englisch, Chinesisch oder fast jeder anderen Sprache zu erstellen.

Software zur Spracherkennung ist heute in nahezu allen Mobiltelefonen verbaut und für viele Menschen aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Kommen Siri, Cortana, Alexa und Co bei unseren Alltagsfragen jedoch manchmal an ihre Grenzen und nicht über das Befolgen von einfachen Befehlen hinaus, so sieht das im medizinischen Bereich anders aus. Kurz vor der Markteinführung befindet sich eine Software, die während des Arzt-Patienten-Gesprächs „zuhört“ und im Anschluss Anamnese, Diagnosen und den weiteren Behandlungsplan strukturiert dokumentiert. Die (nahe) Zukunft wird daher so aussehen, dass Ärztinnen und Ärzte ganz normale Gespräche mit ihren Patientinnen oder Patienten führen, sich dabei ganz individuell auf ihn einstellen, Untersuchungen durchführen und sogar thematisch abschweifen können. Am Ende erstellt die KI ein strukturiertes Dokument und gleicht die Handlungsempfehlungen mit den aktuellen Leitlinien ab. Bis auf einen kurzen Check des fertigen Dokuments entfällt die Dokumentation bzw. das Erstellen von Arztbriefen somit (Adams 2023).

Ärztliches Personal wird durch den Einsatz von KI wieder mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten haben.

Solche Effizienzgewinne werden im Gesundheitssystem angesichts des demografischen Wandels und Fachkräftemangels dringend benötigt. Die vorhandenen (Fach )Kräfte könnten mehr Kapazitäten für die Behandlung von Patientinnen und Patienten einsetzen, statt dass sie mit bürokratischen und administrativen Prozessen blockiert werden. Neben den Arzt-Patienten-Gesprächen kann durch eine einheitliche Plattform vor allem die intersektorale Kommunikation wesentlich effizienter werden.

Nachsorge

Beim Thema Nachsorge sind viele Effizienzgewinne möglich, und so gibt es auch in diesem Bereich interessante Entwicklungen, die zumindest die Zeit nach einer Operation oder einem Krankenhausaufenthalt revolutionieren können. Im Zentrum stehen hier vor allem die Fernüberwachung und Nachuntersuchungen via Telemedizin, wodurch vor allem Wege für Patientinnen und Patienten eingespart, aber auch Krankenhausaufenthalte verkürzt, Infektionsrisiken verringert und Arztbesuche vermieden werden können.

Geräte zur Überwachung von Vitalwerten werden immer kleiner und sind teilweise schon heute, nach kurzer Einweisung, von Laien handhabbar. Dies könnte in vielen Fällen dazu beitragen, dass Patientinnen und Patienten mehrere Tage früher aus der Klinik in das gewohnte Umfeld entlassen werden, wenn sie mit solchen Geräten ausgestattet werden. Medizinisches Fachpersonal kann somit einen Live-Zugang zu den Werten bekommen und das Gerät meldet sich selbstständig, wenn bestimmte Parameter nicht mehr eingehalten werden. Nachbesprechungen, Verlaufs- oder Wundkontrollen werden zukünftig häufiger mittels Telemedizin erfolgen.

Mithilfe kleiner Sensoren wird es möglich sein, Patientinnen und Patienten zuhause zu überwachen.

Fitnesstracker und Smartwatches werden auch in Zukunft günstiger, kleiner und mit mehr Sensorik zur Datenauswertung ausgestattet werden. Dies wird dazu beitragen, dass sich diese Geräte in unserer Gesellschaft noch weiter verbreiten. Während dieser Text verfasst wird, sind beispielsweise bereits mehrere „smarte“ Ringe verfügbar, die ähnliche Sensoren haben wie gängige Smartwatches. Wenn die Markteinführung smarter Ringe durch große Player wie Samsung (angekündigt) und Apple (Gerüchte) erfolgt, geht damit häufig ein weiterer Technologiesprung und eine größere Marktdurchdringung einher. Je nach medizinischer Indikation ist es denkbar, dass solche kleinen Devices als Medizinprodukt zertifiziert werden und mittels KI hochwertige Daten erheben und auswerten können.

Die Rolle der Krankenkassen

Auf den ersten Blick haben Krankenkassen mit medizinischen Revolutionen und KI nicht viel gemein. Grundlagenforschung wird in den Laboren der Universitäten gemacht, Produktentwicklungen und Pharmaforschung in denen der Industrie. Dennoch hat die Bedeutung von gesetzlichen Krankenkassen, mit deren Eigenschaft als Körperschaft öffentlichen Rechts und durch die zentrale Schnittstelle zu den fast 75 Millionen Versicherten, stark zugenommen.

Ein erster wichtiger Schritt für die Verbesserung der Versorgung war, dass seit September 2020 in Deutschland digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden können. Damit leisten die GKV einen wichtigen Beitrag, wenn es darum geht, moderne Formen der Versorgung auf den Markt zu bringen. Dass sich unter den bisherigen DiGAs eine medizinische Revolution im oben beschriebenen Sinne befindet, ist derzeit allerdings nicht absehbar.

Der oben beschriebene Patientenpfad, von der Prävention bis zu Nachsorge, und die dabei aufgezeigten möglichen nächsten medizinischen Revolutionen haben alle gemein, dass sie auf der Auswertung und Verarbeitung von Daten beruhen. Viele Daten liegen den Krankenkassen bereits heute vor, doch die Hürden sind hoch, sie auch außerhalb der Leistungsgewährung und Abrechnung zu verwenden. Schon heute ist es möglich, anhand von Abrechnungsdaten zu erkennen, dass ein Patient oder eine Patientin Arzneimittel bekommt (etwa von zwei unterschiedlichen Ärztinnen bzw. Ärzten verschrieben), die miteinander eine gefährliche Wechselwirkung haben. Beim E-Rezept wird nicht nur das abgegebene Arzneimittel erfasst, sondern es wird auch die Chargennummer an die Krankenkassen übermittelt. Damit ist genau nachvollziehbar welche Packung in der Apotheke an welchen Versicherten bzw. welche Versicherte abgegeben wurde. Bei Produktrückrufen, die sich auf einzelne Chargen beziehen, kann diese Information Leben retten.

Generell profitiert die Forschung davon, dass immer größere Datensätze angelegt und mit KI ausgewertet werden können, aber noch fehlen an vielen Stellen Regelungen zur Nutzung und vor allem zur Verknüpfung dieser Daten. Deutschland hat mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz einen wichtigen Schritt gemacht und ermöglicht zu Forschungszwecken, Gesundheitsdaten aus verschiedenen Quellen miteinander zu verknüpfen. Zentral werden dafür sicherlich die Daten der ePA werden, für die die Versicherten direkt aus der Akte eine Freigabe erteilen können.

Ein Bereich, der immer wieder für Diskussionen sorgt, ist die Terminbuchung. Sei es nun, dass Patientinnen und Patienten zu lange Wartezeiten für einen Facharzt-Termin hinnehmen müssen oder privat Versicherte bevorzugt werden. Eine Möglichkeit, Schwierigkeiten bei der Terminfindung zu verringern, ist, dass Krankenkassen mithilfe von KI Online-Termine bei bestimmten Ärztinnen und Ärzten vergeben können. Sind sie doch häufig Ansprechpartner, wenn es mit der Terminvergabe nicht klappt. Denkbar ist, dass Kassenärztinnen und -ärzte ein bestimmtes Terminkontingent über ihre Praxissoftware freigeben, in welches sich dann Kassen einbuchen können. Selbstverständlich sollte dies nicht (nur) am Telefon oder in der Geschäftsstelle möglich sein, sondern über die Kassen-App, über die auch die ePA erreicht wird.

Krankenkassen spielen bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens eine zentrale Rolle.

Durch die verpflichtende Einführung der ePA für alle gesetzlich Versicherten werden die Krankenkassen in Zukunft eine größere Rolle bei der Digitalisierung einnehmen. In der Akte müssen alle relevanten Daten der Leistungserbringer gespeichert werden – vor allem die in Kapitel 1.5 bezeichneten. Ihr Erfolg hängt davon ab, wie einfach es den Krankenhäusern und Arztpraxen gemacht wird, die Befüllung in ihren Praxisalltag zu integrieren, und wie schnell sich der kurze „Blick in die Akte“ etabliert, mit denen Behandlerinnen und Behandler vorherige Befunde lesen, statt ihnen hinterherzutelefonieren.

Dabei kann die ePA sehr viel mehr werden als ein bloßer digitaler Datenspeicher. Auch wenn die Akte und die Daten darin den Versicherten gehören, werden die Krankenkassen wichtige Schnittstellen bereitstellen können, über die weitere Versorgungsangebote angebunden werden. Diese werden dann entweder durch die Krankenkassen selbst bereitgestellt oder stammen von Drittanbietern.

Mit der ePA entsteht nicht nur ein immer verfügbarer, lebenslanger, zentraler Datenspeicher mit allen wichtigen medizinischen Informationen. Die Akte kann zu einer Kommunikations-Plattform werden, mit der Perspektive, alle Akteure miteinander zu vernetzen und auf die Daten des Patienten oder der Patientin, mit deren Einverständnis, zuzugreifen. Im Grunde genommen hat die ePA das Potenzial, eine sichere und persönliche Cloud der Versicherten im Gesundheitswesen zu werden.

Die Rolle einer Krankenkasse in einem digitaleren Gesundheitssystem wird also nicht sein, selbst zum Behandler zu werden. Der Arzt wird immer der bessere Arzt sein. Die Rolle der Krankenkasse ist es aber, die Möglichkeiten der Digitalisierung den Versicherten, und damit auch den Patientinnen und Patienten, zur Verfügung zu stellen. Kein Arzt und keine Ärztin kann für seine Patientinnen und Patienten eine ePA programmieren lassen, keine Pharmafirma sollte den Patienten bzw. die Patientin durch das Gesundheitssystem steuern. Individuelle Risikoprofile und Präventionsangebote sollten zudem bei einer nicht gewinnorientierten, sicheren und staatlichen Regularien unterliegenden Körperschaft öffentlichen Rechts angesiedelt sein, statt in kommerziellen Unternehmen. Die Krankenkasse wird also zunehmend die Institution sein, die den Versicherten digitale Infrastruktur zur Verfügung stellt und datenbasiert dafür sorgt, dass medizinische Behandlung durch Leistungserbringer ergänzt (etwa durch zielgenaue Präventionsangebote oder Datenanalysen) oder unterstützt (etwa durch die „Navigation durch den Dschungel der Leistungserbringung“) wird.

Die nächste medizinische Revolution

Natürlich kann aus heutiger Sicht niemand vorhersagen, was genau die nächste medizinische Revolution ist. Aber schon dieser grobe, nicht vollständige Überblick über aktuelle Entwicklungen zeigt, dass die nächste radikale Veränderung oder der nächste grundlegende strukturelle Wandel in der Medizin datengetrieben und KI-basiert sein wird. Die oben genannten Beispiele sind wichtige Schritte hin zu einer längeren, gesünderen Lebensdauer bei einer besseren Lebensqualität. Es fällt bei vielen dieser Ansätze aber auf, dass es häufig noch an der Vernetzung und Interoperabilität fehlt. Die meisten Lösungen nutzen zwar Digitalisierung und oft auch eine KI, fokussieren sich aber häufig auf einen einzelnen Aspekt wie eine bestimmte Krankheit. So stehen viele der oben beschriebenen Ansätze für sich allein und sind nicht untereinander vernetzt.

Ebenso agiert auch die Politik. In den letzten Jahren sind einige Gesetze in Kraft getreten, die das Gesundheitssystem umorganisiert und digitaler gemacht haben. Das ist zunächst positiv zu bewerten, jedoch wurde meist nur an einzelnen Stellschrauben gedreht und dabei das System oft komplexer und bürokratischer gemacht. Dieses Schema muss durchbrochen werden.

Dass Einzellösungen allein nicht funktionieren, zeigte zuletzt das E-Rezept. Es basierte zunächst auf Freiwilligkeit der Ärztinnen und Ärzte und einer App der gematik. Wenige Menschen nutzten es, weil in vielen Fällen die Hürden (Download, Anmeldung und Authentifizierung bei der gematik) zu hoch und der Nutzen zu niedrig waren. Sitzt ein Patient oder eine Patientin erst mal im Wartezimmer, ist es für den oben beschriebenen Prozess zu spät.

Der Autorisierungsprozess für das E-Rezept stellte selbst Digitalenthusiasten vor Herausforderungen.

Zur Revolution wird die Digitalisierung im Gesundheitswesen erst, wenn die Fäden der vielen digitalen Einzellösungen in einem Punkt zusammenlaufen und verknüpft werden können. Mit der ePA kann uns das gelingen. Sie könnte zum Mittelpunkt der Versorgung ausgebaut werden, in die neben allen medizinischen Daten und Befunden auch weitere gesundheitlich relevante Daten, die wir ohnehin zunehmend täglich erfassen (zum Beispiel Bewegungsdaten), einfließen und auf deren Basis die Versicherten automatisch Empfehlungen und Angebote erhalten. Medizinische Geräte können ihre Daten (EKG, EEG, Röntgen, Ultraschall) in einem auslesbaren Format direkt in die Akte legen. Therapieentscheidungen werden automatisch dokumentiert und abgelegt. An vielen Stellen kann eine KI bei Bedarf auf die Akte zugreifen und die Behandlungspfade mit Leitlinien oder dem Vorgehen anderer Ärztinnen und Ärzte bei ähnlichen Fällen abgleichen. Liegt das Genom in der Akte, kann medizinisches Personal abgleichen, ob bestimmte Risiken vorliegen oder ob Therapien wirksam sein könnten. Zu den klaren therapeutischen Vorteilen kämen enorme Effizienzgewinne, indem Prozesse völlig neu aufgesetzt und Daten sofort oder sehr schnell verfügbar wären. Und das alles unter der Datenhoheit der Versicherten.

Angesichts eines vernetzten „digitalen Zwillings“ wird der Datenschutz eine wichtige Rolle spielen. Ebenso wird die Frage zu klären sein, wie eine KI reguliert werden muss und wie man Fehler durch falsches Lernen (Stichwort Gender Bias) vermeiden kann. Dies sind jedoch keine Hindernisse, die den Einsatz dieser modernen Technologien unmöglich machen würden. Wie in allen Gebieten muss auch hier eine Chancen-Risiken-Abwägung stattfinden, auf deren Basis dann über Einsatzfelder oder Beschränkungen entschieden werden kann.

Vielen Kritikerinnen und Kritikern geht die Digitalisierung des Gesundheitswesens zu schnell. Angesichts der Potenziale in Bezug auf die individuelle Gesundheit der Versicherten, den demografischen Wandel, die damit einhergehenden Herausforderungen, was Kosten und Effizienz des Solidarsystems angeht, kann das derzeitige Tempo jedoch gar nicht zu schnell sein.

Krankenkassen spielen bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens eine zentrale Rolle.

Durch die verpflichtende Einführung der ePA für alle gesetzlich Versicherten werden die Krankenkassen in Zukunft eine größere Rolle bei der Digitalisierung einnehmen. In der Akte müssen alle relevanten Daten der Leistungserbringer gespeichert werden – vor allem die in Kapitel 1.5 bezeichneten. Ihr Erfolg hängt davon ab, wie einfach es den Krankenhäusern und Arztpraxen gemacht wird, die Befüllung in ihren Praxisalltag zu integrieren, und wie schnell sich der kurze „Blick in die Akte“ etabliert, mit denen Behandlerinnen und Behandler vorherige Befunde lesen, statt ihnen hinterherzutelefonieren.

Dabei kann die ePA sehr viel mehr werden als ein bloßer digitaler Datenspeicher. Auch wenn die Akte und die Daten darin den Versicherten gehören, werden die Krankenkassen wichtige Schnittstellen bereitstellen können, über die weitere Versorgungsangebote angebunden werden. Diese werden dann entweder durch die Krankenkassen selbst bereitgestellt oder stammen von Drittanbietern.

Das System muss sich ändern, und das so zeitnah wie möglich. Tut es das nicht, werden die Kosten weiter ungebremst steigen und gleichzeitig die Behandlungsqualität abnehmen.

Um die Geschwindigkeit zu erhöhen, müssen die Herangehensweisen verändert werden. Viele Jahre wurde über die Einführung des E-Rezepts diskutiert, aber erst, als konkrete Modellprojekte von Krankenkassen gezeigt haben, dass es nicht nur theoretisch denkbar, sondern auch praktisch umsetzbar ist, hat die Bundesregierung es, in abgewandelter Form, eingeführt. Hart kritisiert wurden anfängliche Schwierigkeiten und schnell wurde das gesamte System infrage gestellt. Wäre das E-Rezept erst eingeführt worden, wenn es perfekt gewesen wäre, wären wahrscheinlich noch einmal zehn Jahre ins Land gegangen. Solche Projekte müssen umgesetzt werden, wenn sie einen Entwicklungsstand erreicht haben, der einen sinnvollen Einsatz ermöglicht. Nicht erst, wenn sie scheinbar perfekt sind und jeden nur denkbaren Sonderfall abdecken. Dies gilt auch für die elektronische Patientenakte, die, wenn sie zu Ende gedacht wird, zu einer wirklichen Revolution werden kann.

Literatur

Adams H (2023) Oracle’s generative AI prioritises patient healthcare. URL: https://healthcare-digital.com/technology-and-ai/oracles-generative-ai-prioritises-patient-healthcare (abgerufen am 23.05.2024)

Carlson M (2020) Cochlear Implantation in Adults. The New England Journal of Medicine 382(16), 1531–1542

Cohen J et al. (2008) Does Preventive Care Save Money? Health Economics and the Presidential Candidates. The New England Journal of Medicine 358(7). URL: https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMp0708558 (abgerufen am 23.05.2024)

Formica-Schiller N (2021) Künstliche Intelligenz und Blockchain im Gesundheitswesen. Elsevier München

Franzkowiak P (2022) Präventionsparadox. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.) Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden. DOI: 10.17623/BZGA:Q4-i094-3.0 (abgerufen am 23.05.2024)

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Seebach N, Wasilewski L (2021) Digitaler Puls. Hogrefe Verlag Berlin
The Nobel Prize (2020) Genetic scissors: a tool for rewriting the code of life. Press release. URL: https://www.nobelprize.org/prizes/chemistry/2020/press-release/ (abgerufen am 23.05.2024)

Wiltfang J et al. (2024) Molekulare Biomarker für die prädiktive Diagnostik neurodegenerativer Erkrankungen. Universitätsmedizin Göttingen. URL: https://psychiatrie.umg.eu/forschung/forschungsgruppen/molekulare-biomarker-fuer-die-praediktive-diagnostik-neurodegenerativer-erkrankungen/ (abgerufen am 23.05.2024)

Wolfangel E (2022) DeepMind will Problem der Proteinfaltung gelöst haben. In: Bischoff M (Hrsg.) Künstliche Intelligenz. Springer Berlin